Das Auge ist unzuverlässig

Gerhard Richter arbeitet erfinderisch und konsequent an einem Gesamtwerk. Das hat ihn zum weltbekannten und derzeit teuersten Künstler, aber nicht zum Malerfürsten gemacht. KAY VON KEITZ über die große Richter-Schau im Düsseldorfer K20

Ja, unser System verlangt nach Helden, und da macht auch die Kunst keine Ausnahme: Gefragt sind »Star-Künstler« und »Malerfürsten«, die sich exaltiert und mondän, womöglich exhibitionistisch, aber auch geheimnisumwittert präsentieren – via Medien und bei den Großereignissen des Kulturbetriebs. Gerhard Richter könnte so ein »Held der Künste« sein, schließlich ist die künstlerische wie die monetäre Wertschätzung seiner Arbeit in schwindelerregende Höhen gestiegen. Schon seit Jahren rangiert er auf einem der ersten Plätze des »Capital Kunstkompass«, der alljährlich die Ausstellungs- und Publikationspräsenz lebender Künstler auswertet und zu einem »Ranking der 100 Besten« tabelliert. Das Ergebnis für 2004 brachte die Nachricht: »Dieses Jahr hat ein Machtwechsel an der Spitze stattgefunden: Gerhard Richter löst Sigmar Polke ab.« Und Richter gehört auch zu den teuersten seiner Zunft. 2001 wurde bei Sotheby’s das Ölgemälde »Drei Kerzen« von 1982 für atemberaubende 5,3 Millionen Dollar versteigert.
Aber glücklicherweise taugen weder Richter selbst noch dessen Werk zu einer peinlichen Heroisierung, wie sie die Volks- und Sammlerseele liebt. Er scheint seinen Ruhm eher still und souverän zu genießen und weiter an seinem Projekt Gesamtwerk zu arbeiten. Attitüdenhafte Selbstinszenierungen à la Lüpertz und Konsorten sind ihm fremd, denn er zeigt sich in den Medien (wenn überhaupt) als jemand, der in eigenem Auftrag die Malerei erforscht, und nicht etwa als das Klischee des Künstlergenius’ in bunter Weste. Ein Genuss sind daher die raren Fernsehinterviews, bei denen sich ambitionierte Kulturjournalisten abmühen, Richter mediengerechte Künstlerstatements zu entlocken, dieser aber eigentlich nichts dergleichen zu sagen hat und schlicht zu höflich ist für ein kurzes, befreiendes: Sehen Sie sich doch einfach meine Bilder an, dafür mach ich sie doch! Genau diese Dialektik aus Banalität und Unergründlichkeit, die in solchen Interviews aufscheint, ist es auch, die das Publikum und die Kritiker gleichermaßen bewegt, wenn sie Richters Werke sehen.

»Weil wir neugierig sind, ob das alles nicht ganz anders sein kann, malen wir«

1932 in Dresden geboren, verließ Gerhard Richter 1961 kurz vor dem Mauerbau die DDR, um nach Düsseldorf überzusiedeln. Nachdem er den »realexistierenden Sozialismus« mit seiner Kunstdoktrin des »Sozialistischen Realismus« hinter sich gelassen hatte, rief er im Westen gemeinsam mit Konrad Lueg (dem späteren Galeristen Konrad Fischer) und Sigmar Polke süffisant den »Kapitalistischen Realismus« aus. Er begann nach der Vorlage von schwarz-weißen Zeitungs- und Familienfotos seine heute in der Kunstwelt berühmte verunschärfte und verwischte Malerei, und damit auch seine bislang nicht endende, inzwischen etwa 3000 Arbeiten umfassende Untersuchungsreihe zum Thema: das schöne, wahre und gute Bild. Das es in diesem klassischen Verständnis heute natürlich nicht mehr geben kann – oder auf eine ganz andere Art vielleicht doch noch? Richter ist der große unpathetische Bildermacher und Bilderzweifler: »Wir können uns doch nicht auf das Bild von Wirklichkeit verlassen, das wir sehen; denn wir sehen es doch nur, wie es unser Linsen-Apparat Auge zufällig vermittelt, plus den sonstigen Erfahrungen, die dieses Bild korrigieren. Und weil das eben nicht ausreicht, weil wir neugierig sind, ob das alles nicht ganz anders sein kann, malen wir.«
Dabei hat Richter seine Forschungsarbeit in den letzten 40 Jahren enorm ausgedehnt. Seine scheinfotorealistischen Gemälde haben Landschaften, Himmel, Meer, Personen, Gesichter, Architektur, Interieurs und Stillleben zum Motiv. Gleichermaßen bildwürdig sind dabei eine Jagdflugzeug-Staffel wie ein besetztes Haus, ein Strauß Rosen oder sein Sohn Moritz im Säuglingsalter. Seine Vor-Bilder – Fotos, Collagen, Skizzen – hat er zu einem eigenen Riesenwerk, dem »Atlas«, zusammengeführt. Aber es gibt auch die nach Musterkarten gemalten Farbtafeln, ganze Serien der »Abstrakten Bilder« – streng kontrollierte Farberuptionen und präzise Rakelorgien –, seine vielfältigen Variationen von »Grau«-Malereien und die »Spiegel« und »Scheiben« als Bilder wie als skulpturale Objekte. Von einem Kosmos des Künstlers zu sprechen, ist oft genug nur eine überdimensionierte Phrase, im Falle von Richter hat die Verwendung dieses Monumentalbegriffs durchaus seine Berechtigung.

Von kühler Malerei zur Emotion

Richters grundskeptische Haltung meint man als eine eigentümliche Distanziertheit in jedem seiner Bilder zu spüren. Immer scheint er eine Art von Metaebene einzubauen, als ob er mit seiner Malerei den Akt des Malens zwar perfekt vorführt, zugleich aber kommentiert, womöglich sogar nur zitiert. So hat man den Verdacht, Richter habe sich selbst zum Medium gemacht, das Abbilder zu Erkenntniszwecken in neue Abbilder umwandelt. Das Verblüffende dabei ist, dass seine kühle Malerei beim Betrachter durchaus Emotionen erzeugt. Sein enormer Erfolg beruht nicht zuletzt darauf, dass die in seinen Bildern vorherrschenden Atmosphären auch als romantisch empfunden werden. Und kann Richter damit nicht beweisen: »Das Sehen ist (...) der entscheidende Akt, der letztlich den Produzenten und den Betrachter gleichstellt«?
Die Kunstsammlung K20 zeigt in ihrer Ausstellung 114 Werke von 1963 bis in die allerjüngste Vergangenheit. Die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler erarbeitete Schau startet noch vor dem Treppenaufgang in die Bildersäle mit »11 Scheiben« (2004), der wohl schönsten skulpturalen Arbeit der Ausstellung, die als sinniger Prolog wie selbstverständlich an der Wand lehnt. Die Abfolge der Gemälde durch die insgesamt sechs kleineren und größeren Räume der obersten Etage beginnt mit Landschaftsbildern und ist nicht chronologisch, sondern im weiteren Sinn thematisch geordnet. Der dann folgende weite, hohe Saal ist vor allem großformatigen Abstraktionen ab 1970 und den neuen grautonigen Molekülstruktur-Gemälden »Silikat« (2003) gewidmet.
Insgesamt sind die Räume der Kunstsammlung in ihren Proportionen und in ihrer merkwürdigen Unklarheit für die Präsentation der Arbeiten eher schwierig. Als geradezu erschütternd untauglich erweist sich am Ende des vorgegebenen Rundgangs die große Halle, die mit
dem 9,10 x 9,45 m großen und aus 130 Bildelementen bestehenden »Strontium« (2004) wohl als dramaturgischer Höhepunkt der Ausstellung gedacht ist. Hier sind auch die mächtigen emaillierten Glastafeln »Acht Grau« (2002) installiert, die ursprünglich als Auftragsarbeit für die deutsche Guggenheim-Museum-Dependance in Berlin angefertigt wurden, und nun in diesem Messe-Ambiente eine unglückliche Tendenz zu Designobjekten erhalten.

Erfinderisch wie Picasso, minimalistisch wie Judd

Retrospektiven haben immer das Problem der Auswahl und Entleihbarkeit von Exponaten, so dass ein Bekritteln der Düsseldorfer Zusammenstellung nicht schwer fällt, zumal man einige besonders gewichtige Arbeiten Richters auch bei allem Verständnis für Transferschwierigkeiten schmerzlich vermisst. Wer das Glück hatte, 2002 die großartige Werkschau im New Yorker Museum of Modern Art besuchen zu können, der wünschte auch deutschen Landen eine solche Richter-Highlight-Versammlung. Und warum eigentlich nicht mal in Köln, wo Gerhard Richter immerhin seit 1983 lebt?
Trotzdem darf man sich diese Möglichkeit, Gerhard Richters Welt zu durchstreifen, nicht entgehen lassen. Im Gegensatz zu vielen Retrospektiven anderer Künstler, deren Arbeiten in der Häufung redundant oder gar enttäuschend wirken, ist es bei Richter gerade die Zusammenschau, die das einzelne Werk in seiner Wirkung und Bedeutung noch steigert. Er ist tatsächlich ein Gesamtwerk-Künstler: produktiv und erfinderisch wie Picasso, konsequent und minimalistisch wie Judd. So etwas bekommt man eben nicht alle Tage zu sehen.

K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Grabbeplatz 5, Düsseldorf, Di-Fr 10-18, Sa+So 11-18,
jeden 1. Mi 10-22 Uhr, bis 16.5.