Die Zettel auf dem Nachttisch

Die dänische Performance-Gruppe Hotel Pro Forma gastiert vor ihrem Auftritt bei der Biennale Venedig mit einem Stück über Hans-Christian Andersen in der Halle Kalk

Deutschland hat das Schillerjahr, Dänemark feiert im April den 200. Geburtstag von Hans-Christian Andersen. Der skandinavische Eventwahn steht dem deutschen in nichts nach. Einzige Ausnahme: Die dänische Performance-Gruppe Hotel Pro Forma wurde von offizieller Seite mit einem Theaterstück über Andersen beauftragt. Seit 1986 arbeitet die Truppe um Regisseurin Kirsten Dehlholm an experimentellen Crossover-Projekten zwischen Theater, Kunst und Architektur und hat sich vor allem mit theatralen Raumerkundungen einen Namen gemacht. Ihr neues Stück trägt den Titel »Ich bin nur scheintot« und wird am 9. April in der Halle Kalk seine Weltpremiere erleben, bevor es im Herbst Dänemark auf dem Theaterfestival der Biennale Venedig vertritt.


StadtRevue: Ihre neue Produktion trägt den etwas geheimnisvollen Titel »Ich bin nur scheintot«. Worauf bezieht sich das?

Kirsten Dehlholm: Der Satz stammt von Andersen. Er hatte Angst, dass er bei lebendigem Leib begraben würde, also legte er jeden Abend einen Zettel auf seinen Nachttisch, dass er nicht tot sei. Man kann den Ausspruch auf dem Zettel aber auch auf die Aufmerksamkeit beziehen, die ihm jetzt anlässlich seines 200. Geburtstages widerfährt. Andersen ist heute fast nur noch für seine Märchen bekannt. Es gibt aber auch eine unbekannte Seite dieses Dichters. Für die Dänen ist Andersen eine Ikone, aber als Person eigentlich unbekannt. Er schrieb nicht nur Märchen, sondern auch Romane, Reisebeschreibungen und Tagebücher. Als Mensch war er voller Zweifel, Angst und Paranoia und stellte sich immer wieder die Frage, ob er gut genug sei. Man kann fast von einem Verfolgungswahn sprechen. Das hat sicher mit seiner gewaltigen Fantasie zu tun, die ja auch in den Märchen zum Ausdruck kommt.

Sie stützen sich in Ihrer Produktion auf die Tagebücher und Reisebeschreibungen. Warum?

Ich kannte Andersen zunächst auch nur als Märchenerzähler. Als ich den Auftrag von der Hans-Christian-Andersen-Stiftung bekam, begann ich mich für seine sehr komplexe Persönlichkeit zu interessieren. Er war viel unterwegs, ein Drittel seines Lebens verbrachte er im Ausland, vor allem in Italien und Deutschland. Was er dort erlebte, hat ihn sehr inspiriert. Vor allem wollte er weg aus der bourgeoisen dänischen Gesellschaft. »Ich bin nur scheintot« beschäftigt sich zwar mit der Persönlichkeit Andersens, die Atmosphäre, der »Duft« der Märchen ist aber überall zu spüren.

Andersen als rastlos Reisender, das stellt einen Bezug zur Arbeitsweise von Hotel Pro Forma her, die oft als »nomadisches Theater« beschrieben wird. Was bedeutet das?

Hotel Pro Forma ist eine Theatercompagnie ohne eigenes Haus. Wir sind immer auf Reisen, daher »nomadisches Theater«. Ich finde es spannend, Hotel Pro Forma für begrenzte Zeit an einem Ort zu installieren und die Architektur und Funktion dieses Ortes einer Untersuchung zu unterziehen. Das kann ein Rathaus, eine Stadthalle, ein Museum oder ein Theater sein, deren Geschichte und Tradition dann in die Arbeit mit einfließen.

Wie wird das bei »Ich bin nur scheintot« sein?

Wenn ich ein Projekt konzipiere, denke ich zuerst über den Raum nach, bevor ich überlege, was dort zu sehen sein wird. Für »Ich bin nur scheintot« spielten Andersens Reisen eine große Rolle. Ich wollte deshalb eine sehr breite Bühne, die wie eine Straße funktioniert, eine Straße, die sehr konkret sein, die man aber genauso als Lebensweg deuten kann und die das Publikum nicht auf einen Blick erfassen kann. Wie bei einem Lebenslauf setzt sich auch der Abend aus ganz unterschiedlichen Geschichten zusammen. Es gibt einen zwölfköpfigen Chor und eine Tänzerin, die den alten und jungen Andersen repräsentiert und zwischen den Geschlechtern wechselt. Sie wirkt wie ein Double und sehr lustig. Überhaupt besitzt unser Stück, glaube ich, sehr viel Humor.

In »Ich bin nur scheintot« arbeiten sie mit dem Kölner Komponisten Manos Tsangaris zusammen. Kann man von Musiktheater sprechen?

Ich würde es eher ein »augenscheinlich musikalisches Manöver« nennen. Es bewegt sich zwischen Musiktheater und Bildender Kunst, Performance und Konzert. Die Musik hat, wie Manos Tsangaris sagt, eher die Funktion eines Treibstoffs. Sie ist für Solo und Chor a capella auf deutsche, italienische und dänische Texte komponiert, wird elektronisch bearbeitet und erzeugt über die im Raum postierten Lautsprecher selbst eine räumliche Wirkung.

Hotel Pro Forma gehört zu den renommiertesten Performancegruppen. Können Sie kurz ihre Geschichte beschreiben?

Hotel Pro Forma ist eine Produktionsfirma und ein Laboratorium für Performances und Ausstellungen. Den Kern der Truppe bilden nur ein paar Leute, ich bin für die künstlerische Leitung verantwortlich. Unsere Produktionen sind Untersuchungen zu einem Thema, über das ich mehr wissen möchte. Das kann China sein, Geld, Bildung, Gentechnik oder die arabische Kultur. Grundlegende Fragen unserer Gesellschaft eben. Wir haben kein festes Ensemble, sondern arbeiten immer wieder mit Leuten aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie Kunst, Wissenschaft, Architektur oder Film zusammen. Deshalb ähneln unsere Projekte eher einem Crossover. Auch »Ich bin nur scheintot« fügt sich aus Musik, Bildern, Gesang, der Architektur der Bühne zusammen und ist wirklich ein Gesamtkunstwerk.

»Ich bin nur scheintot« Koproduktion Hotel Pro Forma, Danish National Radio Choir, Schauspiel Köln, 9. (Uraufführung), 11.-15.4., Halle Kalk, 19.30 Uhr.