In weiter Ferne – oder doch ganz nah?

Das nordrhein-westfälische Theaterfestival »Impulse«

findet in diesem Jahr zum 10. Mal statt: ein Wettbewerb der wichtigsten freien Theaterproduktionen aus Österreich, der Schweiz und Deutschland.

Götz Leinweber stellt das Jubiläumsprogramm vor und wirft einen Blick auf die aktuelle Situation freier Theaterarbeit in Köln und andernorts.

»Fördern, was es schwer hat« lautet das Motto des Kultursekretariats NRW, das zusammen mit den Städten Köln, Bochum, Mülheim und Düsseldorf alljährlich die »Impulse« veranstaltet: ein auch bei Stadttheatern und überregionalen Feuilletons anerkanntes Forum freier Theaterproduktionen. Förderung geschieht hier über Wettkampf. Doch Wettbewerb ist eine Bezeichnung, die zusammen mit der Verleihung eines Pokals eine bewusste Glossierung herkömmlicher Theaterfestivals und -preise aufweist. Trotz oder gerade auf Grund solcher Leichtfüßigkeit sehen sich die Veranstalter als wichtige Ergänzung zum Berliner Theatertreffen, bei dem sich, ebenfalls jedes Jahr, der erlauchte Kreis der großen etablierten Häuser sein Stelldichein gibt.
Die tatsächliche Bedeutung der Impulse lässt sich an den Erfolgen der bisherigen Preisträger ablesen: beispielsweise Sebastian Hartmann – den KölnerInnen lebhaft in Erinnerung durch seine Inszenierung von Gerhart Hauptmanns »Einsame Menschen« während der letzten Spielzeit am Schauspielhaus. Oder René Pollesch, der gerade erst den begehrten Mülheimer Dramatikerpreis gewonnen hat und gemeinsam mit einer weiteren Impulse-Gewinnerin, Sandra Strunz, am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg frischen Wind in den Stadttheaterbetrieb bringt.
Das ist den in freien Produktionen Geschulten möglich, weil diese im Vergleich zu den großen subventionierten Bühnen vom eingefahrenen Theaterapparat unabhängig sind: Es gibt keine Vorgaben für die Spielplangestaltung und die Beteiligten erfahren über künstlerische Entscheidungen nicht nur per Besetzungszettel. Die sich aus der Abwesenheit von Verwaltungsriesen und Tarifmonstern ergebende Flexibilität berücksichtigt das künstlerische Potenzial aller Beteiligten. Deren Bedürfnisse und Wünsche bestimmen die thematische Auseinandersetzung – und nicht die Vorstellungen einiger weniger. So können die Gruppen eher den Anforderungen der Zeit gerecht werden, ihrem inneren Drang folgen. Bei den daraus entstehenden Produktionen die mit Theaterehrgeiz versehenen Amateure und Scharlatane von den tatsächlichen Schauspielperlen und Regietalenten zu unterscheiden, ist Aufgabe der Impulse: Filterstation auf dem Weg in die Champions-League.
Richtet man den Blick auf Nordrhein-Westfalen und nimmt die bisherigen neun Jahre des Wettbewerbs als Messlatte, so ist augenfällig, dass nur wenige Produktionen aus der Region beteiligt waren. Das liegt sicherlich nicht an einer Voreingenommenheit der Jury, die im Jahr 100 bis 200 Stücke sichtet und begutachtet, sondern an einer fehlenden Landesförderung. Dietmar N. Schmidt, Leiter des Kultursekretariats NRW und Mitglied im Auswahlgremium der Impulse, fordert schon lange und hartnäckig Gelder zu Errichtung einer »Theaterfabrik« in Nordrhein-Westfalen. Schmidt sieht produktive Beispiele im Hamburger Kampnagel oder in den Berliner Sophiensälen, beides wichtige Impulsgeber in Sachen freier Arbeit im Bereich der darstellenden Künste. Ein im Vergleich zu den hohen Subventionen für Stadt- und Landestheater relativ geringer Zuschuss würde zu einer Einrichtung führen, die den Bedürfnissen der freien Szene gerecht wird: Räume, Material und Werkstätten, eine Disposition, die nicht die eigene künstlerische Selbstverwirklichung verfolgt, Erfahrungsaustausch mit professionellen Theaterschaffenden.
Momentan erleidet Schmidts Einsatz für die Umsetzung der Theaterfabrik jedoch Rückschläge, da die geplante Ruhrtriennale ab 2003 weitere Gelder aufsaugen wird. Nachdem Schmidt ihn wegen Kürzungen im Haushaltsplan kritisiert hatte, betonte NRW-Kultusminister Michael Vesper (Grüne) zwar erst jüngst wieder, dass das Mammut-Festival keinen Einfluss auf die bereits bestehende Kulturförderung haben werde. Doch die Frage bleibt, ob das nicht mehr Lippenmusik denn Wirklichkeit ist. Mit Gérard Mortier, dem vormaligen Leiter der Salzburger Festspiele, ist der Qualitätsanspruch hoch gesteckt, und nicht zuletzt sind aufwändige Festivals Politikern angenehm. Man präsentiert sich, und das künstlerische Umfeld färbt willkommen auf das eigene Image ab. Inwieweit die Post-Salzburg-Veranstaltung das bestehende Selbstverständnis der Menschen in der Ruhrlandschaft aufnimmt, bleibt ungeklärt.
Schränkt man den Blick weiter ein und betrachtet nur Köln, so werden gerade im Vergleich zu Hamburg, Berlin oder auch zu Düsseldorf mit dem Forum Freies Theater Defizite deutlich – obwohl doch einige Häuser mit dem Anspruch auftreten, Theaterexperimente zu fördern, die in der überregionalen Liga der Impulse mitspielen könnten: etwa die Studiobühne, die diese Forderung schon durch ihren Status an der Universität inne haben sollte, oder das Theaterhaus in Ehrenfeld. Doch an beiden Stätten gibt es festgefahrene Rollenverteilungen und die ungute Mischung aus organisatorischen und künstlerischen Interessen. Auch die künstlerischen Konzepte und ästhetischen Spielräume erscheinen zunehmend begrenzt, und in der Summe fehlt der Austausch mit anderen Gruppen oder Häusern Deutschlands, die bewährte Sichtweisen in Frage stellen und neue eröffnen. Stattdessen gibt es in einigen vermeintlich anspruchsvollen Häusern der freien Szene (allerdings nicht an der Studiobühne) immer wieder die Versuche, Publikumserfolge aus anderen Städten zu kopieren. Jüngste Beispiele: »Corpus Christi« im Theaterhaus und Yasmina Reza im Bauturm-Theater.
Einige Gründe also, weshalb in Köln viele ein zusätzliches Verlangen nach hochwertigen Theaterprojekten verspüren, die neue ästhetische Wege gehen und nicht im künstlerischen Mainstream stecken bleiben. Oder sich auf die Impulse freuen, wo man immer wieder erfrischend unbekanntes, kluges Theater erleben kann, das Hoffnung weckt. Dieses Jahr ist eine Kölner Produktion mit dabei: Angie Hiesls »Zwillinge – how do I know I am me« im Deutzer Brückenkopf. Ihre stilsicheren, irritierenden Rauminstallationen stellen gewiss eine Besonderheit der lokalen freien Szene dar. Zu den ungewöhnlichsten Impulse-Produktionen dürfte daneben das »Schlachtfest der Lüste« gehören, ein Kleist-Projekt von Manfred Meihöfer und seinem Vereinigten Gummitier-Ensemble (sic!) aus Berlin. Das im Theater umstrittene Filmfeld betritt das Münchner Metropol Theater mit Gil Mehmerts hoch gelobter Version von Kaurismäkis »I hired a contract killer«. Und Shakespeare medialisiert und radikalisiert verspricht die Theaterwerkstatt Hannover mit Michael Habelitz\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\' »Macbeth Frag«-Verstörung. Doch das sind nur einige mögliche Programmhighlights.
Begleitend finden wie im Jahr zuvor zwei Podiumsdiskussionen mit prominenter Beteiligung statt. Christof Schlingensief, Hans Günther Heyme (Recklinghausen), Thomas Ostermeier (Berlin) und Roberto Ciulli diskutieren in dessen Mülheimer Theater über »Die Schaubühne als moralische Anstalt«, soll heißen: über die großen Theater als inzestuöse Stätten der Selbstbespiegelung. Im zweiten Forum, unter dem Titel »Bricht der Beton? Zehn Jahre Impulse und die Folgen«, reden Kritiker, freie TheatermacherInnen wie Sebastian Nübling und Etablierte wie Luc Bondy (Wien) und Tom Stromberg (Hamburg) im Düsseldorfer Schauspielhaus über die offenbar wachsende Durchlässigkeit zwischen Off- und subventioniertem Theater. Hier müsste sich die Frage stellen, ob dieser Prozess im Zusammenhang mit schrumpfenden Etats steht, oder ob er – und so ist zu hoffen – Zeichen einer neuen Experimentier- und Verjüngungsbereitschaft ist. Natürlich könnte auch beides zutreffen.