Arbeiten am Realen: Stefan Kraft (links) und André Erlen von Futur3

Endlich sein

Futur3 widmet sich in "Der unbekannte Nachbar" dem unspektakulär skandalösen Sterben in der Stadt

Eine Kunst, die sich selbst aufhebt und das vielbeschworene Reale adäquat abbildet, so sieht sich das Theater in der Zukunft. Was aber genau ist real und wie bekommt man es auf die Bühne? Die letzte Ausgabe des Festivals Globalize: Cologne im November zeigte, wie heiß Theater sein kann, wenn es außerhalb traditioneller Rezeptionsstrukturen arbeitet. Nun machen sich die Veranstalter Futur3 selbst ans Werk und fühlen einem alten Theaterprofi auf den Zahn: dem Tod. In ihrer Trilogie »Der unbekannte Nachbar« lassen die Regisseure André Erlen und Stefan Kraft Repräsentanz gegen Authentizität antreten.

 

Ihr macht ein dreiteiliges Stück über das Sterben. Doch geht es nicht um Tyrannen oder eifersüchtige Liebhaber. Ihr macht das durchschnittliche Sterben in deutschen Großstädten zum Thema.

 

André Erlen: In Europa sterben die meisten Menschen nicht mit einem Dolch im Rücken oder auf dem Schlachtfeld. Sie sterben allein im Bett, im Krankenhaus, Heim oder zuhause. Völlig unbeachtet, weil sie keine Angehörige oder Freunde mehr haben. Das ist die Realität. Jeder Tod ist eine Zäsur in der Gesellschaft. Was macht das mit uns, dass immer mehr sterbende Menschen vereinsamen und ihre Biografien verschwinden?

 

Ihr wollt wissen, was zurückbleibt?

 

Stefan Kraft: Uns interessiert der anonyme Tod und seine Organisation. Wir haben recherchiert und mit Sterbenden, Hospizdiensten, Medizinern, Ethnologen, Bestattern und Entrümpelungsfirmen gesprochen. Wir wollen in drei Teilen über das leise Sterben in der Stadt erzählen. Wir beginnen im ersten Teil »Das Protokoll der letzten Stunden« mit den letzten Augenblicken eines Menschen inmitten seiner Hinterlassenschaften in einer Kölner Wohnung.

 

Wie muss man sich das vorstellen?

 

Kraft: Wenn sich keine Angehörigen finden, regelt das jemand vom Ordnungsamt, ein Betreuer. Der hat uns die Hinterlassenschaften eines Kölners vermittelt, der anonym gestorben ist. Wir haben alles von diesem Mann, dem »unbekannten Nachbarn« übernommen: Bücher, Kleidung, alte Lebensmittel, Küchenuntensilien, Fotos, Briefe, Buchhaltung.  Das wäre sonst alles auf dem Müll gelandet. Aus dem Material haben wir eine fiktive Biografie erschaffen. Den letzten fünfzig Minuten dieses Lebens wohnt der Zuschauer bei. Wir machen ihn zum heimlichen Beobachter bei der Rekonstruktion dieses Todes.

 

Wie ein Reenachtment?

 

Erlen: Wir wollen das Sterben präsent machen, statt es stellvertretend vorzuführen. Man kann sagen, die Zuschauer betreten zwar eine Wohnung, aber es ist mehr der innere Raum des Unbekannten. Der wird sich auch melden. Wir nutzen die Technik, die im Raum ist. Über Fernseher oder Anrufbeantworter hören wir Nachrichten, Texte, Klänge, die eigens komponiert wurden. Es wird ein sehr intimer Raum. Die Zuschauer finden das Leben des unbekannten Nachbarn verdichtet vor und können es nachvollziehen. Bis er stirbt.
Kraft: Aber da liegt kein Schauspieler auf dem Bett und röchelt. Obwohl wir mit Performern arbeiten. Nur stellen die beiden sich ganz in den Dienst des Protokolls dieser letzten fünfzig Minuten. Wir nennen sie Agenten der Existenz. Sie verkörpern keine Rolle oder eine Figur.

 

Das steht im Kontrast zur Wiederholbarkeit, die das Theater mit seinen oft eher albernden  Bühnentoden zelebriert. Untersucht ihr im zweiten Teil »Das Totenfest« diesen unwiederholbaren Moment des Sterbens weiter?

 

Kraft: Wir machen die Zuschauer zu den Hinterbliebenen des unbekannten Nachbarn — in einer spielerischen Form. Wir wollen dazu verführen, die Totenfeier mitzugestalten. Der Zuschauer kann aber auch nur Zeuge sein. Ganz wie er mag.

 

Erlen: Nach welchen Ritualen handeln wir da eigentlich, haben wir uns gefragt. Welche Traditionen sind das überhaupt? Was ist davon für uns, was für den Verstorbenen? Es gibt so viele Möglichkeiten des Abschiedsnehmens. Wir wollen ausprobieren: Wenn der Tod eintritt, sind Angehörige oft eher überfordert und delegieren an Institu­tionen, die gegen Geld den zur »Materie« gewordenen Mensch dann möglichst würdevoll aus der Welt schaffen.Im Jenseits landen wir bei euch auch, im dritten Teil. Den nennt ihr »Kabinett des Jenseits«.

 

Kraft: Der spielt an einem wunderschönen Ort in Ehrenfeld versteckt hinter dem Heiz Gaul, dem Haus Licht. Das wirkt wie Tschechows Datscha, alles aus Holz mit kleiner Veranda und kleinem Garten.

 

Erlen: Da hat uns das Museum »Jurassic Technology« in Los Angeles inspiriert. Darin ist alles dunkel und düster inszeniert und beruft sich auf die ersten Kuriositätenkabinette des 18. Jahrhunderts. Man sieht zum Beispiel ein Haarhorn, das einer Frau aus dem Kopf wächst oder Schnitzereien aus Fruchtkernen. Je länger man durch die Ausstellung geht, desto schwieriger wird es zu erkennen, was echt ist.Weil Fiktives und Authentisches sich durchmengt?

 

Kraft: Ja. Damit spielen wir im »Kabinett des Jenseits« auch. Wir inszenieren mit unserem Szenen- und Lichtbildner Boris Kahnert und einem Videokünstler in Räumen Exponate, Ahnenkulte, Philosophien, Leib-Seele-Konzepte, das ewige Leben, Tonbandstimmen wie Informationen, die umher ­flirren. Privates und Allgemeines, Ironisches und Wahres wird sich vermischen.

 

Erlen: Es geht uns aber nicht um metaphysische Sentimentalitäten. Im »Kabinetts des Jenseits« geht es um Strategien, den Tod psychologisch erträglich und vorstellbar zu machen. Der Zuschauer kann hier erleben, wie er sich dazu ins Verhältnis setzt und daraus Wirklichkeit entstehen lässt.

 

 

Teil 1: »Das Protokoll der letzten Stunden«
29. (UA), 30., 31.1., 1.2., Grafenwerthstr. 4, 17, 19, 21Uhr

 

Teil 2: »Das Totenfest«
17. (UA)–19.2., Bestattungshaus Kuckelkorn, Zeughausstr. 28–38, 20 Uhr 

 

Teil 3: »Das Kabinett des Jenseits«
24.–26.2., Haus Licht, (Lichtstraße, von Vogelsangerstraße erstes Holztor linke Seite), 17–22 Uhr