Auswege aus dem Schneckenhaus

Half Moon Run sind eine Band

für alle Jahreszeiten

Wenn es nach Innen geht, muss es auch wieder raus gehen. Sonst verliert man sich in den Weiten seiner Traumwelt. Oder — der andere Ef­fekt, aber genau so unheimlich — es wird zu eng. Das Schneckenhaus des Egos ist nicht so geräumig. Und so ist es kein Wunder, dass die Inner­lichkeitswelle in der Popmusik be­reits gebrochen ist. Noch vor zwei Jahren konnten wir uns nicht retten vor Konzertterminen von bärtigen jungen Männern, die sich hypersen­sibel durch ihre überbordenden Ge­fühls­welten klampften. Hohe Stim­men (gerne im Duett), verschleppter Schlagzeugbeat (wenn überhaupt) und die allersanftesten Bluesharmonien auf der Gitarre (aber bitte keine Soli). Davon existiert auch eine weibliche Variante, allerdings nicht ganz so emotional zudringlich.

 

Half Moon Run, das Quartett aus Montreal, haben sich 2012 gegründet, also zu dem Zeitpunkt, als die Fleet Foxes — die genreprägende Band der neuen Innerlichkeit — ­auf dem Zenit ihres Schaffens standen. Es liegt nahe, Half Moon Run zu Epigonen zu erklären, aber ihr Witz besteht darin, mit dem Epigonalen nur zu spielen. Auf ihrem aktuellen Album »Sun Leads Me On« brauchen sie nur drei Tracks, um von einer ländlich anmutenden, sonnig verschlafenen Blues-Nummer zu einem Synthie-Track überzuleiten, der sich alsbald als straighter Indierock entpuppt. Das nächste Stück taucht in die bedrohten Gärten der Simon-Garfunkel-Melancholie ein. Aber auch diese Idylle trügt, wird das Stück doch zu einer Middle-of-the-Road-Nummer aufgeblasen, wie es sich einst nur die Eagles getraut hatten. Half Moon Run zerlegen die Folkherrlichkeit zu Baukastenteilen und  rearrangieren sie zu einem kos­mopolitischen Sound. Die Souve­ränität kanadischer Bands im Umgang mit dem drei Jahrzehnte umfassenden Material der Indieszene klingt hier an.

 

Devon Portielje (Gesan, Gitarre, Percussion), Conner Molander (Gesang, Gitarre, Keyboard), (Gesang, Schlagzeug, Keyboard) und Isaac Symonds (Gesang, Percussion, Keyboard, Gitarre): Man sieht es schon an Besetzung und gleichberechtigter instrumentaler Arbeitsteilung, dass Half Moon Run horizontal arbeiten. Alles findet auf eine Ebene statt. Es soll kein Weg mehr nach Innen bestritten werden, es wird eingesammelt, was in dieser Ecke der Popkultur (weiß, großstädtisch, westlich) für maximale Gefühlswerte steht. Half Moon Run erweisen sich darin als klassische Band des Übergangs: das eine ist vorbei, das andere hat sich noch nicht herausgeschält.

 

Wie es sich herausschälen kann, zeigen die Kanadier gleich mit: Alle Sounds, Rhythmen, Melodien, Stile müssen präsent sein. Aus der Evolution der ständigen Kombination explodiert vielleicht doch noch mal eine Revolution.