»Die Sprache einer Verkäuferin kann man nicht erfinden«

Es gibt kein Gesetz des Marktes: Stéphane Brizé über seinen Film

Der Wert des Menschen, Pegida und das Streben nach Wahrhaftigkeit

Ihr Film erzählt von einem Mann, der nach längerer Arbeitslosigkeit einen Job als Kaufhausdetektiv bekommt und dabei Kollegen denunzieren soll. Wie sind sie an diesen Stoff herangegangen? Ich hatte die Idee im Kopf und habe mich dann in die erzählten Situationen begeben — ins Arbeitsamt, ins Kaufhaus. Ich habe beobachtet, teilweise auch mitgearbeitet und aus diesen Erfahrungen heraus die Figuren entwickelt. Das war für mich wichtig, weil man so die Klischees vermeidet, die diesen Berufen anhaften. Und nur so lernt man die richtige Sprache, die Ausdrucksweise einer Verkäuferin oder eines Kaufhausdetektivs kann man nicht erfinden.

Wie hat sich aus ihrer Sicht die Arbeitswelt in Frankreich in den letzten Jahrzehnten verändert? Die Verhältnisse sind gewalttätig geworden. Arbeit ist rar, und wer Arbeit anzubieten hat, hat Macht über den, der arbeitslos ist. Das ist, wie wenn jemand in der Wüste Wasser hat: Dann kann er Bedingungen stellen, kann sagen, du bekommst einen Schluck, wenn du das und das machst.

Was macht Thierrys Situation so exemplarisch für die Konflikte der heutigen Arbeitswelt? Sein Dilemma verbindet ihn mit vielen Menschen. Er wird vor eine Entscheidung gestellt, die immer eine falsche sein muss: Entweder begeht er ökonomischen oder moralischen Selbstmord.

Warum haben sich dafür entschieden, die meisten Rollen mit Laien zu besetzen? Es ging darum, Wahrhaftigkeit herzustellen. Fast alle, die mitwirken, spielen in ihrem eigenen Beruf: der Mitarbeiter des Arbeitsamts, die Bankfrau, die Wachmänner. Vincent Lindon musste sich als »professioneller« Schauspieler zu ihnen verhalten und auf die Situation reagieren. Generell haben wir alles weggelassen, was sonst zum Filmemachen gehört — Lichter und Ähnliches —, um diese dokumentarische Anmutung herzustellen. Ich wollte der Wahrheit nahe kommen. Dafür gibt es natürlich nicht eine verbindliche Herangehensweise. Robert Bressons Filme sind zum Beispiel antinaturalistisch erzählt und trotzdem gelingt es ihnen, Wahrheit nahe zu kommen.

Haben sie sich deshalb auch für einen Kameramann aus dem Dokumentarfilmbereich entschieden? Ich wollte jemanden, der sich in der Situation selbstständig für ein Bild entscheidet. Und da Eric Dumont auch Regie geführt hat, konnte ich auf seine Erfahrung zählen. Im Prinzip ist der Kameramann wie ein weiterer Schauspieler in diesem Setting. Mich interessierte vor allem Thierrys emotionale Reaktion auf das, was er erlebt. Wie bei einem Boxkampf ist es viel interessanter, den zu filmen, der die Schläge ins Gesicht kriegt, und nicht den, der zuschlägt. Deshalb habe ich mich auch für das Cinemascope-Format entschieden, weil es mir ermöglicht, Thierry auch dann am Bildrand zu zeigen, wenn er nicht derjenige ist, der die Szene vorantreibt.

Ihr Film hat diese dokumentarische Anmutung, zugleich halten sie immer einen gewissen respektvollen Abstand zu ihren Figuren. Sie verzichten etwa auf ihre Hintergrundgeschichten. Ich respektiere die Figuren und ich respektiere die Zuschauer. Mir ist es wichtig, dass der Zuschauer nicht nur von der Geschichte berührt wird, sondern sich selber in ihr wiedererkennt. Beim Schreiben ordne ich narrative Elemente zu einer Geschichte, aber genauso wichtig ist es mir, Leerräume zu schaffen, die es dem Zuschauer ermöglichen, sich selbst einzubringen.

Im Französischen heißt Ihr Film »Le loi du marché«, »Das Gesetz des Marktes«, insbesondere von Arbeitgeberseite wird das oft wie ein Naturgesetz behandelt. Wie ist ihre Perspektive? Der Begriff »Markt« ist eine Erfindung des Menschen. Wenn man von »Gesetz« spricht, dann verleiht man etwas, das nicht funktioniert, einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch. Im allgemeinen Bewusstsein bekommt es dann etwas Zwingendes, Alternativloses, was es natürlich nicht ist.

Gibt es aus ihrer Sicht eine arbeitsmarktpolitische Möglichkeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen? Ich bin eigentlich kein Pessimist, ich betrachte mich eher als Realisten: Aber ich sehe nur eine Mauer, die immer höher wird. Und das produziert dann Erscheinungen wie den Front National oder Pegida in Deutschland — was vor ein paar Jahren noch nicht möglich schien. Das ist zugleich eine sehr gewalttätige, sehr normale und sehr tragische Antwort auf das Gefühl allein gelassen zu werden.

Ihr Film wird häufig mit Filmen der Brüder Dardenne verglichen. Inwieweit sehen sie selbst da eine künstlerische Verwandtschaft? Was uns verbindet, ist die Idee, dass ein Einzelner größer und stärker sein kann als das System. Und mein Glaube an den Menschen ist groß genug, um an dieser Idee festzuhalten.