Formal flatterhaft

Jenseits von Dokumentation oder Fiktion: Francofonia und Tomorrow Is Always Too Long haben Spaß am essayistischen Umkreisen ihrer Themen

Die Bilder von Hitlers Besichtigungstour durch das besetzte Paris sind bekannt. Überraschend ist diesmal nur, dass der Führer spricht, als der offene Wagen an einer Kreuzung stehen bleibt: »Wo ist denn der Louvre?« fragt er, um sich gleich selbst zu antworten und dann einige Bemerkungen weiter in gewohnt knarzigen Adolf-Sound zu resümieren: »Großartige Architektur auf der ganzen Linie«. Dann knattern zwei Jagdflugzeuge durch eine altertümelnd eingefärbte Luftaufnahme des Museumskomplexes.

 

Diese Sätze sind natürlich frei erfunden und wurden von Regisseur Alexander Sokurow in die Filmdokumente vom Besuch des Diktators hineinsynchronisiert. Ein hübscher Gag, und ein Hinweis auf die spielerische Machart und das ernsthafte Sujet von »Francofonia«, der um genau diese Pariser Jahre und ihre Vorgeschichte kreist. Denn als Hitler in Paris ankam, waren die Galerien des Louvres längst leer geräumt, Direktor Jacques Jaurard hatte die Kunstwerke heimlich in Schlösser der Umgebung gebracht.

 

Aber auch der von den Nazis mit dem sogenannten Kunstschutz beauftragte Graf Wolff Metternich nahm seine Pflicht gegenüber der Kunst so ernst, dass er sie vor den privaten Beutezügen von Hitler, Göring & Co schützte (und nach zwei Jahren gehen musste). So wurden aus Kontrahenten Komplizen. Und Sokurow fand in dieser Konstellation einen griffigen Kernkonflikt für seinen Film.

 

In »The Russian Ark« hatte der Regisseur 2002 sein Publikum in einer einzigen 99-minütigen Einstellung durch die Sankt Petersburger Eremitage und die russische Geschichte geführt. Jetzt nimmt er den Louvre zum Start für eine ähnliche Unternehmung, nur, dass der Film diesmal als vielschichtig assoziative Collage aus Archivmaterial, nachinszenierten Spielszenen und diskursiven Elementen angelegt ist. Dabei gibt Sokurow sich selbst als plaudernden Erzähler, der zuerst vergeblich bei Tolstoi und Tschechow Rat holen will und dann immer wieder über eine zusammenbrechende Skype-Verbindung Kontakt zum Kapitän eines Container-Frachters sucht, der mit einer Ladung voller Kunst bei schwerer See zu kentern droht. Eine Metapher, die ebenso für den von Europa seit Jahrhunderten betriebenen weltweiten Kunstraub wie für den spirituellen Abgesang auf das Abendland stehen könnte.

 

Eher schlicht wird es dann mit Auftritten der Geister von Napoleon und der französischen Nationalfigur Marianne, deren Wortschatz — ach, wie lustig! — auf den Slogan »Liberté, egalité, fraternité« begrenzt ist. Und der nach Hitler wohl größte Kunsträuber der europäischen Geschichte und Begründer des Louvre-Museums wird als dumpfbackiger Louis-XIV-Epigone dargestellt, der sich über jedes in Öl gemalte Abbild mit einem kindlichen »C‘est moi« freut. Und na klar, die Mona Lisa steht auch irgendwo herum.

 

So unbefriedigend das inhaltlich sein mag, so machen die opulent eingerichteten Bilder und die für Sokurow ungewohnte formale Flatterhaftigkeit doch Laune. Und es ist wohl Zufall, dass mit »Tomorrow Is Always Too Long« nur drei Wochen später noch ein anderer Film anläuft, der in ähnlicher Art die üblichen Erzählformen von Dokumentar- und Spielfilm sprengt. Dabei korrespondieren beide Arbeiten in der mosaikartigen essayistischen Form und dem Spiel mit Archivalien und anderen medialen Vorlagen, liegen aber sonst Welten auseinander. Während Sokurow einzelne Filmstücke mit digitalen Kratzern auf alt trimmt, travestiert der britische Videokünstler und Professor an der Kölner Kunsthochschule für Medien Phil Collins mit Vorliebe Fernseh- und Online-Formate wie Werbeclips oder Partnerbörsen.

 

In einer langen zentralen Passage steigert sich die TV-Wahrsagerin Mindy (die neben Aura Readings und Tarotkarten — very british! — das Lesen von Teeblättern anbietet) zunehmend in einen wortgewaltigen Kreuzzug gegen die digitale Aufrüstung. Ein paar Quizkandidatinnen müssen bei allen Fragen, deren Antwort nicht »Justin Bieber« ist, passen. In einer Art Talkshow erzählen ältere Frauen vom Tod ihrer Männer. Und dazwischen wachsen aus scheinbar dokumentarischen Alltagsituationen unvermittelt melodramatische Gesangseinlagen, die das Ganze auch zu einem Teilzeit-Musical machen. Dazu kommen in schwarzweißer Scherenschnitt-Manier gezeichnete Animationsstrecken um Sex und Nachtleben.

 

Collins hat seine Kunst immer schon ganz unelitär als Mittel der Kommunikation verstanden. So stehen auch hier statt der großen Geschichten Helden und Dramen des Alltags im Zentrum: ein einsames Schulmädchen, ein Polizeihäftling oder ganz gewöhnliche Menschen beim Kneipen-Tanz. Dabei kommt Collins’ Film im Unterschied zu Sokurow ohne auktoriale Steuerung aus, so dass wir Zuschauer uns selbst einen Weg durch die auch gut als Mehrkanal-Videoinstallation vorstellbaren Episoden machen dürfen.

 

Doch nach und nach bildet sich aus den locker verknüpften einzelnen Szenen dann doch ein großes gemeinsames Ganzes heraus: Es ist die schottische Hafenstadt Glasgow als Handlungsort mit dem gutturalen Sprachklang ihrer Bewohner, der — neben dem satten Orchestersound — dem Ganzen eine eigene Würze gibt. So ist »Tomorrow Is Always Too Long« auch eine lebendige Variante des Genres Großstadtporträt. Ein gefühlspralles, originelles und bei aller Intelligenz erfrischend volkstümliches Kino­erlebnis ist es sowieso.