Wie man Gedanken verjagt

Anton Bruhin kommt mit seiner Maultrommel in den Stadtgarten

»...?Urin, Uran, Ural, Gral?...« — eine Reihung von Wörtern, die sich jeweils nur durch einen einzigen Buchstaben unterscheiden. Phonetische Ähnlichkeiten, Semantiken ohne Zusammenhang, Sinnüberschüsse. Das lyrische Hauptwerk »Rotomotor« von Anton Bruhin ist ein Wortungetüm. Bruhin nahm »Rotomotor« im August 1978 auf. Eine halbe Stunde lang trägt er in Hochdeutsch mit Schwyzer Akzent sein »Idiotikon« vor, wobei eine Verzögerung alle 0,6 Sekunden wiederholt wird und jedes Wort dadurch das Echo des Vorhergehenden überlagert. In atemberaubender Rhythmik schaukelt sich so ein Wortgebäude hoch, ein nicht abreißendes Band sich in einander drehender und verdrehter Wörter, eine halbstündige sonische Skulptur von raumgreifender Wirkung.

 

Bruhin, Jahrgang 1949, beheimatet in Zürich, ist ein Solitär. Aber seine Kunst ist natürlich nicht voraussetzungslos. Er war in den 60er Jahren Schüler in Serge Stauffers künstlerischer Experimentier-Klasse »Form und Farbe«, aus der die berühmte F+F Schule für experimentelle Gestaltung in Zürich hervorgehen sollte. Stauffer entwickelte für diese Klasse ein Konzept, das Kunst als Forschung begriff, und Fluxusstrategien und multimediales Gestalten als Lerninhalte etablierte. Beeinflusst von der dort vermittelten Konkreten Poesie begann Bruhin, Happenings zu organisieren und Bücher zu veröffentlichen. Er bastelte eigene Instrumente wie das ch-phon, eine PVC-Röhre mit einem Saxofon-Mundstück, und nahm Platten mit experimenteller Folk-Musik auf, bei denen er die Instrumente selbst einspielte: Harmonika, Flöte, Geige, Percussion und, in bester John-Cage-Tradition, Wasser.

 

Irgendwann Ende der 60er Jahre schenkte ihm ein britischer Straßenmusiker eine Maultrommel. Die Klangvielfalt dieses simplen und uralten Instruments erinnerte Bruhin an einen Synthesizer: »Dabei ist doch die Maultrommel neben der Stimme das einzige organische Instrument, bei dem der Ton innerhalb des Körpers produziert wird. Und dennoch ist ihr Klang dem Moog so ähnlich. Die Maultrommel ist ein Synthesizer.« Er war fasziniert von dem unmittelbar erzeugbaren Klang, von der Vibration, die sich beim Spielen auf seinen Schädel übertrug und ihn zusammen mit dem durch Hyperventilation hervorgerufenen Kohlendioxidmangel in einen Trance-Zustand katapultierte. »Die sphärischen Sounds lassen sich direkt, ohne Schaltungen, ohne Knöpfe drehen, produzieren.« Seither spielt er das Instrument mit den tausend Namen, seit über vierzig Jahren »verjagt« er damit »Gedanken«, wie er sagt (im Italienischen nennt man die Maultrommel Scappiapensieri, was eben genau dies bedeutet). So hat Bruhin ein einzigartiges minimalistisches und primitivistisches Werk geschaffen.