Heim & Welt

Wir müssen reden

Diese Klage ist alt. Deshalb muss sie nicht unberechtigt sein. Man hört, die Menschen läsen kaum noch. Darin offenbart sich eine Sorge: dass eine Kulturtechnik im Niedergang begriffen sei und dass damit einhergehend die allgemeine Bildung sinke, weil die geistige Anspannung erschlaffe, weil überhaupt die Geistesgegenwart verloren gehe. Ich glaube, es sind bloß andere Geister gegenwärtig. Kann sein, es sind alberne Gespenster aus einer Geisterbahn des schlechten Geschmacks. Dieser Pessimismus ist alt. Deshalb muss er nicht unberechtigt sein. Trotzdem glaube ich, dass sehr viele Menschen sehr viel lesen.

 

Es ist wahr, dass sich kaum noch jemand in die Werke Hesiods, Plutarchs oder Firdausis vertieft. Was die geschrieben haben, ist auch weltanschaulich heute nicht mehr — wie sagt man? — »konsensfähig«. Aber muss es das sein? Was heute gelesen wird, ist weltanschaulich ebenso fragwürdig: der Voyeurismus der Krimis, die Feier des Archaischen in der Fantasy-Literatur, auch jener Rummelplatz-Journalismus, der die Dummheit und die Niedertracht ausstellt.

 

Die Menschen lesen viel, doch anderes und auch anders. Die Texte stammen nicht von Hesiod, Plutarch oder Firdausi. Sie heißen »Das Hyazinthen Labyrinth« (Bindestriche sind für Spießer), »Die sieben Zisternen des Schamanen« oder »Das Amulett der greisen Feen«. Wenn man die Titel gelesen hat, kennt man das Buch. Die folgenden 800 Seiten sind nur eine geschwätzige Fußnote.

 

Ich weiß aber noch zweierlei, das heutzutage gelesen wird beziehungsweise nicht. Zunächst: SMS. Hesiod, Plutarch, Firdausi — sie können keine Kurznachrichten mehr verschicken. Stattdessen leider Tobse Bongartz. Alles andere als eine Kontaktaufnahme per SMS stelle eine Ungehörigkeit dar, sagt Tobse. »Nur Idioten telefonieren noch!« Ich überprüfte das in der Straßenbahn. Nun stimme ich zu. Aber ich konnte nicht auch noch sämtliche SMS kontrollieren. Ich spähte so gut es ging auf die Displays meiner Sitznachbarn. Doch da marschierten nur Armeen von Emoticons und Ausrufezeichen auf. Die Schreiber waren Menschen im vertragsfähigen Alter, keine Kinder.

 

Und ich weiß auch, was nicht gelesen wird. Gebrauchsanleitungen. Sie sind die Schule klaren Denkens und zugleich rätselhaft und wunderlich. Ich lese sie vollständig, auch Russisch und Thai, die Buchstaben sind schön. Und ich greife nach Jahren immer wieder darauf zurück. Vieles erschließt sich erst mit zunehmender Lebens- und Leseerfahrung. Gebrauchsanleitungen sind mein Hesiod.

 

Es gibt leider zu wenige — es fehlen jene für Alltägliches. Oder das Publikum verschmäht sie. Deshalb werden Staubsauger wie Curling-Schrubber benutzt. Deshalb werden Kühlschränke falsch befüllt. Deshalb benutzen Menschen ihr Smartphone sehr falsch. Zwar gibt es Smartphone-Anleitungen vom Umfang eines höfisch-historischen Barockromans, aber im Gegensatz zu diesem ermangeln sie der Passagen zu Ethik und Etikette. Der Mensch meint, er dürfe mit seinem Smartphone alles anstellen. Er begreift nicht, dass gewisse Funktionen eine gefestigte Charakterbildung verlangen: Zum Beispiel telefonieren und simsen.

 

Das Telefonat ist die zweitbeste Form des Gesprächs. Es reduziert unser Gegenüber auf dessen Stimme, aber die Stimme ist immerhin der Lufthauch der Seele. Eine der schlechtesten Formen der Kommunikation ist Schrift. Sie ermöglicht den ungleichzeitigen Austausch über Räume und Zeiten hinweg. Aber sie erfordert diszipliniertes Denken, etwas, das man im Gespräch stets nachbessern kann: Ich wollte damit sagen, dass... Jeder komplexe Sachverhalt ist mündlich schneller geklärt als schriftlich. Die vermeintlich effiziente Kommunikation per SMS ist nur Zeitvertreib. Denn die Menschen lesen so gern und so viel wie nie zuvor.