Mehr Werdendes als Seiendes: das Ei (Foto: Wikisearcher/cc-by-sa)

Das Ei als Widerspruch

Nachtisch - Die Gastro-Kolumne

Es gibt Eier, die sind grün. Nicht nur zu Ostern. Die »hundertjährigen« Enteneier der chinesischen Küche gären über Monate, verfärben ihren Dotter, werden gallertartig. Sie sind dann eine Delikatesse, aber eine, nach der hierzulande nur Unerschrockene verlangen. Unsere kulinarische Phantasie gelangt beim Ei kaum weiter als bis zum Spiegel- oder Rührei, das nach den Grillen hemdsärmeliger Mode-Köche mit Brimborium überladen und so entstellt wird.

 

Ansonsten tritt das Ei meist nur als küchentechnisches Helferlein auf, ohne dass wir es als Ei noch erkennen oder schmecken würden. Etwa, indem es die Zutaten bindet wie bei Teigen oder hingeschluderten Nachspeisen, die italienisch wirken sollen.

 

Selbst das traditionsreiche Sol-Ei ist längst aus unserem Alltag verschwunden. Viele Eierspeisen, die vor hundert Jahren noch üblich waren, befremden uns heute. Wer kennt noch Aurora-Eier, für die hart gekochte Eiweißscheiben durch gewürzte Mehlschwitze gezogen und mit flüssigem Dotter serviert werden? Oder das Austern-Ei, das in Wirklichkeit ein Hühner-Ei ist, das roh mit wenig mehr als etwas Zitrone zu schlürfen ist?

 

Nein, rohe Eier sind uns suspekt. Wir wittern Salmo­nellen und denken sogleich an skandalöse Käfighennen-Eier, die mit Dioxin belastet sind, aber auch ansonsten chemisch schmecken.

 

Überhaupt weckt das Ei in vielerlei Hinsicht Widerspruch: Das Ei trägt ihn grundlegend in sich, ist es doch weich und hart zugleich — roh lässt es sich nicht zerdrücken und ist doch zerbrechlich wie nur irgendetwas. Und wir trauen dem nicht, was sich darin verbirgt.

 

So eignete sich das Ei schon immer für den Mythos. Etwa als Welten-Ei in einigen antiken Mysterienkulten. Dort schlüpft ein erster Gott aus der Schale. Mit ihm jedoch erscheint in solchen Ei-Kosmologien sogleich ein Problem: das Henne-Ei-Paradox als Frage nach dem Anfang vor dem Anfang.

 

Derart mit Bedeutungen befrachtet, ist es schon verwunderlich, dass es kein Nahrungstabu gibt, das ausschließlich den Verzehr von Eiern untersagt, zumal das Ei als unschuldig und schutzbedürftig gilt.

 

Das Ei ist mehr Werdendes als Seiendes, ist Fruchtbarkeit; philosophisch gesehen versinnbildlicht es die potentia, nicht den actus. Kulinarisch, so scheint es, bleibt diese potentia ungenutzt. Weshalb? Das stärkste Argument der Ei-Kritik lautet, das Ei sei bloß Textur, es habe kaum Geschmack. Aber das ist falsch, man kann seinem Aroma nachspüren. Am besten, indem man Eier endlich mal ohne Salz isst. Die Feiertage bieten dazu jetzt reichlich Gelegenheit. Und wer sich dabei vor einem Übermaß Cholesterin fürchtet, der glaubt auch an den Osterhasen.