Mut zum Gänsefüßchen

Ist die Kunst in Gefahr? Ich meine, der Kunstfreund irrt, wenn er sein Steckenpferd allenthalben bedroht sieht durch Engstirnigkeit und Spießertum. Gerade der Spießer spendet doch der Kunst stets eifrig Beifall. Ihn begeistert, wie man nur auf solche Ideen kommen kann! Und der Spießer hat gelernt, artig nachzuplappern, wie alles so bedeutend wird, wenn es denn Kunst genannt wird. Steht er aber einmal ratlos vor einem Werk, dann begreift er dies als seinen eigenen Fehler. Er applaudiert trotzdem. Ja, wer möchte denn schon als Kunstbanause gelten?

 

Na, ich jetzt! Denn nimmt man die wahnwitzigen Devisen »Alles ist Kunst!« und »Kunst darf alles!« als Prämissen, gelangt man dann nicht zu der erstaunlichen Konklusion, dass alles erlaubt ist? Oh, ich aber lebte lieber in einem Staat, der von einer Kamarilla aus Hochzeitsschwindlern regiert wird. Denn dort herrschte wohl mehr Anstand als im Ku?nstler-Utopia, wo jeder machen kann, was er will. Bringen wir denn Verständnis auf, wenn ein Elektroinstallateur »Zensur!« schreit, weil man ihn zur Verantwortung zieht für schlampig verlegte Starkstromkabel? Ja, warum soll dann der Kuünstler keine Ruücksicht nehmen müssen?

 

Man muss nicht gleich Kunst in Gänsefüßchen schreiben, bloß weil über die Bühnen der Stadttheater gern mal kotüberhäufte Nackedeis stolzieren, mit nichts bekleidet als einem kess aufgepfropftem Hitler-Gruß im Genitalbereich — aber es sollte auch nicht als fortgeschrittenes Spießertum gelten, wenn man das als Kunst etwas mittelmäßig findet. Es ist dumm, jede gezielte Provokation als Kunstwerk zu feiern. Man benötigt kein Talent, um jemanden zu ärgern, bloß schlechte Laune. Alle Kartoffeldruck-Vorstudien irgendeiner kunsttherapeutischen Werkstatt erscheinen mir wertvoller. Das empört sie? Sehen Sie: Sofort ist dieser Absatz Kunst!

 

Ebenso wenig taugt es als Wertmaßstab, wenn Menschen durch das Werk eines Künstlers verwirrt werden — auch nicht, wenn das im Ausstellungskatalog als »Infragestellung etablierter Sichtweisen« gerühmt wird. Der Erkenntnisgewinn durch Kunst wird grandios überschätzt. Der Regisseur David Lynch, ein Fachmann für Irritation, sagte einmal, es gehe nicht darum, Filme zu verstehen, sondern Erfahrungen zu machen. Das scheint mir ein treffendes Wort zu sein, um zu zeigen, wo die Grenze zwischen Kunst und Erkenntnis verläuft.

 

Auch, dass in der Kunst Wahrheit sei, gehört zum Floskelfundus der Kunst-Dogmen, die nur so lange geistreich erscheinen, wie man nicht darüber nachdenkt. Es kann wohl nur jene Sorte Wahrheit sein, wie man sie auch in einem Sonnenaufgang, dem Geruch nasser Wolle oder dem Raucherhusten in der Nachbarwohnung findet — wenn man denn unbedingt will.

 

Einen sehr hohen Wahrheitswert will man in diesen Tagen vor allem der Satire zubilligen, und zwar, seitdem viele Eiferer, Hitzköpfe und Despoten als Rezensenten auftreten. Ich mag keine Despoten. Sie sind unbeherrscht, selbstsüchtig und nehmen sich zu wichtig — darin gleichen sie übrigens manch einem Künstler, deren Werke sie so sehr in Wallung versetzen. Ich finde Satiren oft lustig, aber ich glaube, dass Satire ebenso wenig der Wahrheitsfindung und Erkenntnis dienen kann wie Hinterglasmalerei oder die Sonatenhauptsatzform. Und gründet Satire denn nicht auf Verzerrung? Und dass ein Kunstwerk seinen Gegenstand zur Kenntlichkeit verzerren — das ist dann schon wieder so ein aufgeblasener Nonsens aus den Ausstellungskatalogen, der bloß gescheit klingt.

 

Und wem das alles nicht passt, was hier steht? Dem schrei ich mein Gedicht ins Gesicht: »Fickende Pissscheiße/Scheißende Pissficke/Pissende Scheiße!« Haben Sie mathematische Komposition erkannt? Spüren Sie die Kraft des daktylischen Hexameters?