Neue deutsche Verunreinigung

Jenseits drögen Themen- und Förderkinos: Der Nachtmahr gehört zu einer Gruppe deutscher Filme aus den letzten Monaten, die Genrekino ästhetisch ambitioniert umdeuten

Die Beats wummern — heftig, dunkel, überwältigend. Das Stroboskopgewitter donnert. Entgrenzung. Ekstase. Stumpf. Geil! Berlin. Nicht der Mitte-Schnickschack, den das Kino-Falschgeld »Victoria« letztes Jahr als real deal zu verscherbeln versucht hat. Die Leute, die hier abgehen, sind keine Hipster, die in angesagten Vierteln in Cafés arbeiten und nebenbei was Interessantes mit Medien machen. Sondern Teenies, halbe Kinder, Bürgerkinder aus Stadtrand-Villen — geschmacksunsicher, verwöhnt, uneinsichtig, hedonistisch. Echte Kröten, aber voller lust for life.

 

So beginnt »Der Nachtmahr« von Akiz. Unter seinem bürgerlichen Namen Achim Bornhak beliefert er Fernsehen und Industrie (u.a. »Das wilde Leben«), der Künstlername ist dem integeren Werk vorbehalten. In Deutschlands Fördersystem, das eher schlecht auf transgressives Kino zu sprechen ist, heißt das: Drehen auf eigene Faust. Das niedrige Budget für den »Nachtmahr« ging fürs Nötigste drauf. Honorare? Rückstellung! Damit kriegt man keine Butter aufs Brot, aber dafür unterliegt man auch keinen Gremienauflagen.

 

Entsprechend folgt der Film kaum gängigen Formaten: Was anfangs noch wie eine deutsche Version von »Spring Breakers« wirkt, wandelt sich zu einer nokturnen Rauschfantasie, als hätte man die Hoffmann’sche Schauerromantik ins heutige Berlin verlegt: Nachdem die junge Tina nach einer Party unter rätselhaften Bedingungen — »Lost Highway« lässt grüßen — von einem Auto angefahren wird, scheint ihr eine an einen missgebildeten Fötus erinnernde Kreatur nachzustellen. Erst plündert diese nachts den Kühlschrank, rückt Tina dann aber immer näher auf den Leib. Tinas Umfeld steht indessen vor einem Rätsel. Da nur sie den »Nachtmahr« sieht, mutet ihr Verhalten erst erratisch, dann psychotisch an.

 

Wie die schauerromantischen Ahnen erklärt auch »Der Nachtmahr« sein Szenario nicht wirklich: Ist das Wesen eine neurotische Fantasie? Eine Konkretion unterschwelligen Begehrens, einer Angst? Dem Erklärwahn des Fördersystems (»Das versteht das Publikum doch nicht«) setzt Akiz Bilder entgegen, die unrein und dunkel sind, die Uneindeutigkeiten ertragen. Die unter die Soundkulissen gelegten binauralen Frequenzen, denen man hypnotisierende Effekte nachsagt, tun das übrige, um das Gehirn schön zu massieren. »Der Nachtmahr« ist eine tolle, sympathisch unbeschlagene Reise ins dunkel schimmernde Herz der Nacht, die ganz nebenbei noch Spielbergs »E.T.« auf unheimlich und düster umkrempelt.

 

Überhaupt tut sich im deutschen Kino derzeit einiges. Vom improvisierten »German Mumblecore« der Lass-Brüder hat man ja allgemein schon Notiz genommen. Aber auch im drastisch-wagemutigen Kino regt sich ein gesunder Hunger, der sich nicht mehr damit abfinden mag, dass aus Deutschland von Amts wegen nur helle, sortierte Bilder abzuschöpfen sind. Zumindest von den Rändern der Filmproduktion her haben zuletzt einige ziemlich aufregende Filme den Stein angehoben, um sich vom Gewusel der Asseln faszinieren lassen.

 

Till Kleinerts »Der Samurai« etwa, ein Abschlussfilm der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, der in einer dunklen Brandenburger Nacht ein erwachendes queeres Begehren allegorisiert. In der titelgebenden Rolle des Samurai bringt Pit Bukowski seine ganze derbe Physis in einem Mädchenkleid zum Ausdruck, wenn er hinter blonden Strähnen hervorlugt und mit dem Schwert die Spießbürger um ihren Kopf erleichtert.

 

Oder Nikias Chryssos’ »Der Bunker«, nochmal mit Bukowski in der Hauptrolle, diesmal als ein Student in einem hermetisch-spießbürgerlichen Albtraum. In einem eingeschneiten, entlegenen Bunker soll er Klaus unterrichten, ein echter Dummbatz, der einmal mindestens US-Präsident werden soll. In der Nähe zum absurden Kino eines David Lynch angesiedelt, präsentiert Chryssos zum Schreien komische Verschrobenheit, die sich aus dem angehäuften Geröll bundesdeutscher Neurosengeschichte speist.

 

Schließlich Nicolette Krebitz’ »Wild«, in dem Bukowksi in einer Nebenrolle auftritt. Die verhuschte, vom Büroalltag im ostdeutschen Nirgendwo getriezte Ania begegnet darin einem Wolf, der sie völlig in ihren Bann schlägt. Erst fängt sie ihn, dann hält sie ihn bei sich in der Wohnung und türmt schließlich nach der eigenen Verwilderung gemeinsam mit ihm ins Freie. Krebitz erzählt und inszeniert das sensibel, einfühlsam, tastend intim und zugleich mit großer Lust am Regelbruch. Kameramann Reinhold Vorschneider findet dazu fragile, schmutzige Bilder. Einer der schönsten deutschen Filme der letzten Jahre.

 

»Wild« mündet in sonnenbestrahltes Lächeln — ein Befreiungsmärchen. Als solches könnte man vielleicht auch diese vier Filme deuten, denen ein sehr zeitgenössischer Begriff von Genre zugrunde liegt: an den krassen Überschlägen dieser Art von Kino interessiert, aber ästhetisch ambitioniert, ohne auf dröge Formeln zu verfallen, die vielen in den Sinn kommen, die den »deutschen Genrefilm« zwar herbeisehnen, ohne den Begriff aber konkret anzureichern.

 

Für seinen »Nachtmahr« lanciert Akiz den Begriff »New German Fantastik Cinema«. Gruppiert man diese vier Filme als losen Zusammenhang, funktioniert dieser Begriff bereits wie ein handfestes Versprechen. Am Ende vom »Nachtmahr« steht eine Autofahrt durch die Nacht: Das Unheimliche hat das Steuer übernommen, Ziel: ungewiss. Die Reise verspricht aufregend zu werden.

 

Der Nachtmahr. D 2015, R: Akiz, D: Carolyn Genzkow, Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Sina Tkotsch, 92 Min. Start: 26.5.