Peter Simonischek als "Lebenscoach" Toni Erdmann

Weltmeister der Herzen

Das Filmfestival von Cannes: Die Regie-Stars enttäuschen, die Neulinge überzeugen, und die Deutsche Maren Ade bezaubert alle mit »Toni Erdmann« – außer die Jury

»Es mag ein Klischee sein, aber es ist auch wahr: Die Deutschen haben keinen Sinn für Humor«, schrieb das britische Wochenmagazin The Economist noch Anfang Mai. Nicht nur die Briten haben ein wenig positives Bild von der Humorfähigkeit der Deutschen. Ex negativo belegte das die Reaktion auf »Toni Erdmann«. Als am 13. Mai der dritte Film der Berliner Regisseurin Maren Ade seine Premiere vor rund 1000 internationalen Journalisten feierte, wurde während der Vorführung so viel gelacht und geklatscht, wie man es schon länger nicht auf dem Filmfestival von Cannes erlebt hat. Als deutscher Journalist wurde man noch Tage nach der Vorführung verwundert darauf angesprochen, dass so ein komischer und berührender Film ausgerechnet aus Deutschland kommen konnte. »Nicht nur existiert deutscher Humor, es könnte sein, dass er dein Leben rettet«, erklärte die britische Tageszeitung The Telegraph ihren Lesern aus Cannes in einer begeisterten Besprechung des Films. Da das Festival für das Kino so etwas ähnliches ist wie die Weltmeisterschaft für den Fußball, kann man sagen: Auch wenn die Jury um George Miller »Toni Erdmann« bei der Preisvergabe unberücksichtigt ließ, wurde Deutschland dieses Jahr immerhin Weltmeister der Herzen.

 

Natürlich sind solche nationalen Zuschreibungen mehr als zweifelhaft und ein lustiger deutscher Film macht aus dem Land noch keine Humor-Hochburg, aber dass nach Böhmermanns Schmähgedicht so kurz hintereinander wieder weltweit über Humor made in Germany diskutiert wird, scheint einige internationale Beobachter nachhaltig irritiert zu haben.

 

Maren Ade wurde so aber nicht nur unfreiwillig zur Repräsentantin des deutschen Humors. Schon im Vorfeld bekam sie eine ähnliche Last in Bezug auf den deutschen Film im Allgemeinen und ihre Rolle als Regisseurin aufgeladen. Schließlich ist es acht Jahre her, dass ein hiesiger Film im Wettbewerb des Festivals vertreten war – Wim Wenders zu Recht bereits völlig vergessener »Palermo Shooting«. Eine Tatsache, die in den vergangenen Jahren auch immer mehr Kritik am deutschen System der Filmförderung auf sich gezogen hat. Ade gehörte zudem dieses Jahr wieder zu einer der wenigen Frauen, die es in den Wettbewerb schafften. 2016 waren es insgesamt drei von 21 – neben Ade Andrea Arnold und Nicole Garcia. Man muss schon zynisch sein, um das als Fortschritt gegenüber 2012 zu werten, als nicht eine einzige Regisseurin im Wettbewerb vertreten war.

 

Umso schöner ist es, dass Ades Film unter all der Repräsentationslast nicht zusammenbricht. Ein derart intelligenter, brillant geschriebener, herausragend gespielter Film wird immer und überall eine Seltenheit sein. Aber dass er zudem trotz seiner 142 Minuten Länge Potenzial zum Publikums-Hit hat, hebt ihn noch einmal heraus. Die Möglichkeit zum Crossover-Hit zu werden, liegt gewissermaßen in der DNA des Films begründet. Verbinden seine Figurenkonstellation und die Grundzüge des Plots doch zwei populäre Narrative besonders des US-Films: Da ist zum einen die universelle Geschichte der Aussöhnung in einer Familie – hier zwischen Vater und Tochter – und zum anderen das Aufeinandertreffen eines männlichen »Losers« und einer weiblichen Figur, die verbissen an gesellschaftlichem Status orientiert ist – man kennt das aus den Komödien-Produktionen von Judd Apatow; und in Cannes wurde daher schon über US-Remakes des Stoffs spekuliert.

 

Das Genie von Ade liegt darin, wie sie diese bekannten Zutaten abwandelt und auf unvorhersehbare Weise in ihren eigenen Kosmos überführt. Aus den jungen Loser-Typen der US-Filme macht Ade den Alt-68er und Musiklehrer Winfried, der gerade seinen letzten Schüler verloren hat und seine Umgebung mit ständigen Streichen und Scherzen nervt. Seine Tochter Ines ist eine ehrgeizige Unternehmensberaterin, die wenig Verständnis für den entspannten Lebensstil ihres Vaters hat. Als Winfried seine Tochter in Bukarest besucht, wo sie gerade arbeitet, ist er dagegen entsetzt von ihrem freudlosen, einzig um ihre Arbeit kreisenden Leben. Auftritt: Toni Erdmann, Winfrieds Alter ego. Mit zotteliger Perücke, schäbigem Anzug und falschen Zähnen versucht er als angeblicher »Lebenscoach«, Ines aus der Reserve zu locken. Es ist klar, dass es zu irgendeiner Art von Annäherung von Vater und Tochter kommen wird, Ade vermeidet aber Aussöhnungskitsch und eine abgeschlossene Erzählung. Stattdessen nimmt der Plot immer wieder überraschende Wendungen.

 

Die 39-Jährige lieferte mit »Toni Erdmann« auf den ersten Blick ein gutes Argument für eine Verjüngung des Wettbewerbs von Cannes. Zumal Stammgäste des Festivals wie Pedro Almodóvar, Olivier Assayas, die Gebrüder Dardenne, Jim Jarmusch, Andrea Arnold und der am Ende mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Ken Loach Routiniertes, Nebenwerke oder gar völlig Misslungenes präsentierten. Dazu kam ein von der Kritik völlig verrissenes Liebesdrama vor dem Hintergrund eines afrikanischen Bürgerkriegs von Sean Penn (»The Last Face«) und leidenschaftliche Buh-Rufe für Nicolas Winding Refns Horror-Thriller »The Neon Demon«.

 

Neben Ade sorgten dagegen weitere Neulinge für zwei der besten Filme des diesjährigen Durchgangs. Der Franzose Alain Guiraudie (»Der Fremde am See«) war nach dem Gewinn des Regie-Preises in der Festival-Nebensektion »Un Certain Regard« im Jahr 2013 in den Wettbewerb aufgerückt. Mit »Rester vertical« präsentierte er den freiesten und unvorhersehbarsten Film der Konkurrenz. Das Leben eines Drehbuchautors gerät darin auf alptraumhafte Weise immer mehr aus den Fugen.

 

Der Brasilianer Kleber Mendonça Filho konnte zwar mit »Aquarius« sein herausragendes Debüt »Neighbouring Sounds« nicht überbieten, aber er bewies erneut, dass er zu einem der größten Talente des derzeitigen Weltkinos gehört. Der ehemalige Filmkritiker erzählt die Geschichte einer ehemaligen Musikkritikerin, die ihren Ruhestand in ihrem alten Apartment am Strand von Recife genießen will. Doch ein Immobilienentwickler plant, das Haus abzureißen, um an der Stelle einen modernen Wohnkomplex zu errichten. Er hat aber nicht mit dem Widerstandsgeist der einzig noch verbliebenen Bewohnerin des Hauses gerechnet.

 

Obwohl sich Filho ganz auf seine Protagonistin konzentriert – die herausragende Sonia Braga – erzählt er beiläufig viel über Korruption, Rassismus und Klassengrenzen in seinem Heimatland. Die Weltpremiere in Cannes nutzten er und sein Team passenderweise für einen Protest gegen die Suspendierung von Dilma Rousseff und gegen die neue Regierung in Brasilien. Außerdem ist »Aquarius« auch ein wunderbarer Film darüber, wie Menschen Gegenstände mit Bedeutung und Erinnerungen aufladen – sei es eine Wohnung, eine Plattensammlung oder eine alte Kommode.

 

Ebenfalls nicht enttäuscht haben die beiden rumänischen Filme im Wettbewerb. Nach zwei Filmen in Un Certain Regard (»Der Tod des Herrn Lazarescu«, »Aurora«) hat Christi Puiu mit »Sieranevada« den formal strengsten Film der Auswahl präsentiert. Wenn man sich auf die langsame Erzählweise und die langen Einstellungen einlässt, wird man über knapp drei Stunden Spielzeit mit einem Familienporträt belohnt und erfährt ohne aufgesetzte Drehbuch-Mechanik viel über das Rumänien der Gegenwart. Ein ähnlich komplexes Gesellschaftsporträt anhand einer Familiengeschichte lieferte auch Christi Puius Landsmann Christian Muniu mit »Bacalaureat«. Allerdings präsentiert sich der Gewinner der Goldenen Palme des Jahres 2007 (für »4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage«) im Kontrast zu Puiu formal weniger rigide als gewohnt. Stattdessen verlässt Christian Muniu sich auf sein brillantes Drehbuch und die guten Schauspieler.

 

Aus diesen Beispielen lässt sich aber nicht ableiten, dass die Auswahlkommission des Festivals dieses Jahr zu sehr auf bekannte Namen gesetzt habe. Denn die Sektion Un Certain Regard – eigentlich so etwas wie die Nebenreihe für neue Talente und Wagemutiges – präsentierte ein ungewöhnlich schwaches Programm. Zwingende Filme von jungen Regisseurinnen oder Regisseuren, die im Wettbewerb besser aufgehoben gewesen wären, waren dort diesmal nicht zu entdecken. Gegen jede Art von Altersdiskriminierung spricht auch die Tatsache, dass mit dem 77-jährigen Paul Verhoeven der zweitälteste Regisseur des Wettbewerbsprogramms einen der besten, frischesten und gewagtesten Filme des diesjährigen Durchgangs vorgelegt hat. Erst zum zweiten Mal nach »Basic Instinct« im Jahr 1991 wurde er dieses Jahr nach Cannes eingeladen. Isabelle Huppert spielt in seinem Film »Elle« die Chefin einer Firma für Computerspiele, die mehrfach von einem Mann in einer Ski-Maske vergewaltigt wird. Traumatische Erfahrungen in ihrer eigenen Vergangenheit sind der Grund dafür, dass sie nicht zur Polizei geht. Die toughe Geschäftsfrau scheinen die Angriffe auch kaum aus der Ruhe zu bringen. Die weiteren Wendungen der Geschichte dürfen nicht verraten werden – nur eins sei versichert: Dies ist kein üblicher »rape revenge thriller«. Der Film – Verhoevens erster seit zehn Jahren – wird auch regulär in die deutschen Kinos kommen.

 

Am Ende gingen alle genannten Filme mit Ausnahme von Christian Munius »Bacalaureat« bei der Preisverleihung leer aus. Der Graben zwischen Kritiker-Lieblingen und Jury-Lieblingen hat sich selten in Cannes derart weit geöffnet.

 

Sven von Reden

 

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