»Wie klingst du?«

Das Protokoll einer eindrucksvollen Begegnung mit der Footwork-Produzentin Jlin

Der Rollstuhlfahrer an meiner Seite scheint selbst nicht glauben zu können, zu welcher Wildheit ihn das Set von Jlin angetrieben hat. Beobachtete er das Geschehen zu Beginn der Show im amerikanischen Durham, die Teil des dreitägigen Moogfests ist, noch ruhig und distanziert, so schüttelt er sich am Ende heftig im Takt beziehungsweise Untakt der Beats der Footwork-Produzentin aus Gary, Indiana. Nach dem Set sind sich alle einig: So düster und brachial war keine andere Performance des Festivals. Was angesichts eines Line-ups, zu dem Hieroglyphic Being, Ben Frost, Actress und Oneohtrix Point Never zählen, durchaus einiges heißen will.

 

Überraschend kam dieser Auftritt von Jlin Narlei, wie die Musi-kerin mit vollem Namen heißt, freilich nicht. Immerhin hat ihr Debütalbum »Dark Energy« 2015 dem etwas in die Jahre gekommenen Footwear-Genre —arhythmische Beats im Clinch zwischen House, HipHop und Drum’n’Bass, angetrieben von Angst und Wut und nicht selten performt mit einer an Happy Hardcore erinnernden Euphorie — eine massive Frischzellenkur beschert. Die Belohnung dafür waren die oberste Platzierung in den Jahrescharts des britischen Wire Magazines und die Auszeichnung, den  Soundtrack zur Modenschau von Rick Owens auf der Paris Fashion Week zu liefern. Die Tracks von Jlin sprechen Fashion-Hipster und Tech-Nerd an — und sind, wie nicht zuletzt der Auftritt in Durham zeigte, wie geschaffen für den Dancefloor.

 

Nachdem Jlin den Rollstuhlfahrer auf der Straße vor dem Club noch mal innig umarmt hat, setzen wir uns in die Lobby ihres Hotels. Es gilt über das gerade Erlebte zu sprechen und all die anderen Fragen anzugehen, die »Dark Energy« aufgeworfen hat. Aber zunächst berichtet Jlin von den aktuellsten Auswirkungen ihres unerwarteten Erfolgs: »Ich habe am 31. Dezember vergangenen Jahres beschlossen, meinen Job zu kündigen — und es fühlt sich sehr gut an, keinen Dayjob mehr zu haben«, poltert es aus ihr heraus. »Es ist schwer, Musik zu kreieren, wenn du immer den Arbeitsdruck spürst.« Jlin ar--beitete, wie die meisten in ihrer Region, in der Stahlindustrie. Eine harte Arbeit, aber auch ein relativ abgesicherter Job. Weshalb ihre Mutter, die eine große Rolle in ihrem Leben spielt, zunächst skeptisch reagiert habe. Dafür habe sie aber Verständnis, führt Jlin aus, für Eltern sei es nun mal das Wichtigste, zu wissen, dass ihre Kinder auch ohne sie überleben können.

 

Auf dem Weg zu dieser Gewissheit, hat sie aber rein zufällig die Karriere ihrer Tochter erst so richtig ins Rollen gebracht. Weil sie ihr die Kardinalfrage schlechthin stellte: »Jlin, wie klingst du?« Erst da sei ihr schlagartig bewusst geworden, dass all diese auf Samples basierenden Tracks, die sie bis zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere produziert habe, zwar abwechselungsreich und voller Anspielungen gewesen seien, sich aber eben nicht durch eine eigene Handschrift auszeichneten. Erst durch diese Einsicht sollte es ihr möglich werden, zu ihrer »Dark Energy« zu finden. Dass sich im Kern dieser Energie viele afroamerikanische Themenstränge finden, das verwundert kaum angesichts von fünfzig Prozent schwarzer Bevölkerung in Indiana. Mit »Black Diamond« und »Black Ballett« nähert sie sich ihrer Community auf dem Album an, bevor sie sich mit Tracks wie »Guantanamo« und »Mansa Musa« die resultierenden großen zivilisatorischen Kriege vornimmt.

 

Mit ihrem neuen Album, das den Arbeitstitel »Black Origami« trägt und an dessen letzten Zügen Jlin derzeit sitzt, wird sie genau dort weitermachen. »Es wird all die Veränderungen, durch die ich seit dem Debüt gegangen bin, aufgreifen«, erzählt sie. »Der Titel ist wörtlich zu verstehen, denn genau so arbeite ich. Alles entsteht ausgehend von einem weißen Blatt Papier, das ich stets neu falte. Das vorangestellte Schwarz repräsentiert dabei den offenen Raum, in dem ich mich bewege.« 

 

Auf die Frage, ob sie denn einen großen Erwartungsdruck spüre, schüttelt Jlin den Kopf: »Nur ich selbst treibe mich an. Selbst wenn ich neun Grammys gewinnen würde, wäre das kein Grund zur Zufriedenheit. Man muss sich dem Schmerz von Fehlern aussetzen. Ich will doch kein Label verkörpern, sondern stets Neues und Unerwartetes erschaffen.«

 


Aber wenn wir schon bei Zuschreibungen sind, dann sollten wir auch darüber reden, was den Sound von Jlin prägt. »Ich mag es nicht, wenn die Dinge perfekt synchronisiert sind«, startet sie mit einer Negation. »Ich schätze das Unperfekte. Ich bin keine Maschine, sondern eine leidenschaftliche und verletzliche Person. Gerade diese Verletzlichkeit will ich mein Publikum durch meine Musikfühlen lassen.« Wenn es gelte, dafür durch die Tiefen der angsteinflößenden Hölle zu gehen, dann sei das ein Preis, den zu zahlen sie bereit sei. Damit verweist sie auf die eigenen, durch die künstlerische Praxis verursachten Bipolaritätsstörungen. Denn die Alternative, etwas Mediokres zu entwerfen, die könne es ja nicht sein. Nur dass es sich andere so leicht machen, das nerve sie. »Wenn ich mein Facebook öffne, sehe ich immer die Kommentare von all den Produzenten, die mehrere Tracks am Tag vorlegen«, faucht sie aufgeregt. »Ich kann froh sein, wenn ich es auf 16 Takte bringe. Ich kann einfach nicht anders. Für meine Art zu arbeiten, sind Fehler und Blockaden notwendig, aber wenn sie aufbrechen, dann fühlt sich das großartig an.« 

 

Jetzt sei es aber genug mit den Fragen. Denn nach den Shows rufe sie immer ihre Mutter an, um dieser aufgeregt zu berichten, wie es gelaufen ist. Was sie ihr sage? »Die Wahrheit!« Sie habe keine Probleme damit, selbstkritisch auf die Auftritte zu blicken, führt sie aus. Das Wichtigste sei es, immer zu wissen, was für ein Privileg man leben dürfe und dementsprechend an die Musik herauszugehen. »Egal wie müde ich bin, ich erinnere mich immer daran, dass die Leute nur für mich kommen. Wenn dann so jemand wie der Rollstuhlfahrer auf mich zukommt, dann ist das unglaublich berührend. Ich musste fast heulen.«