»Man soll beide Seiten verstehen«

Beim Filmfestival von Cannes begeisterte Maren Ade mit Toni Erdmann. Ein Gespräch mit der Regisseurin über 68er-Eltern, Karrierefrauen und falsche Zähne

Maren Ade kramt ein Bonbon aus ihrer Handtasche. Ihre Stimme versagt immer wieder. Sie wirkt müde. Gerade hat sie in Cannes den Sprung in die Erste Liga des Weltkinos geschafft. 

 

Drei Tage zuvor begann der Siegeszug ihres Films »Toni Erdmann« beim wichtigsten Filmfes-tival der Welt. Nur wenige hundert Meter vom Ort des Gesprächs entfernt, geschah so etwas wie das »Wunder von Cannes« der deutschen Filmbranche. Tausend internationale Journalisten klatschten begeistert und lachten bei »Toni Erdmann« — der ersten Vorführung eines deutschen Films im Wettbewerb des Festivals seit acht Jahren. Bei der großen Galavorstellung am folgenden Tag vor 2000 Besuchern war es nicht anders: Zum Schluss gab es sieben Minuten standing ovations. Der wichtige Kritikerspiegel des britischen Branchenblatts Screen bestätigt das Empfinden: »Toni Erdmann« erlangte dort die höchste Wertung eines Cannes-Films seit Einführung des Polls.

 

Die vergangenen drei Tage ging es für Ade an der Croisette von einem Interviewtermin zum nächsten, zudem hat sie ihre beiden kleinen Kinder, das jüngere ist gerade mal ein halbes Jahr alt, mit nach Cannes gebracht — man kann verstehen, dass sie erschöpft ist. Eine längere Pause hat sich Ade auch in den vergangenen sieben Jahren nicht gegönnt. So lange ist es her, dass sie für »Alle Anderen« in Berlin einen Silbernen Bären verliehen bekam. »Zwei Jahre habe ich am Drehbuch für Toni Erdmann geschrieben, dann den Dreh vorbereitet«, erzählt sie stimmlos. »Nach dem Dreh gab es nur eine kurze Erholung. Dann habe ich eineinviertel Jahre geschnitten und den Rest der Postproduktion gemacht.«

 

Außerdem war Ade zu der Zeit mit ihrer Firma Komplizen-Film, die sie mit Janine Jackowski noch während der Studentenzeit an der Hochschule für Film und Fernsehen in München gegründet hat, maßgeblich an der Entstehung einiger der besten deutschen Filme der vergangenen Jahre beteiligt — etwa Benjamin Heisenbergs »Über-Ich und Du« oder »Schlafkrankheit«, ein Film ihres Lebensgefährten Ulrich Köhler. Außerdem hat Ade die jüngsten Filme des portugiesischen Ausnahmeregisseurs Miguel Gomes koproduziert, auch sein sechsstündiges Werk »1001 Nacht«, das Anfang Juli bei den »Kölner Kino Nächten« (sic!) zu sehen sein wird.

 

Für eine Komödie, oder genauer: eine Tragikomödie, hat »Toni Erdmann« mit 162 Minuten ebenfalls eine beachtliche Länge, ohne jedoch langatmig zu sein. Nur zwei Menschen stehen im Mittelpunkt: Winfried, ein notorischer Scherzbold, und seine Tochter Ines, eine ehrgeizige Unternehmensberaterin. Nach dem Tod seines Hundes bricht Winfried nach Bukarest auf, um Ines zu besuchen, die dort gerade arbeitet. Der Alt-68er hat den Eindruck, dass seine Tochter  unglücklich ist mit ihrem Leben, das nur auf ihre Karriere ausgerichtet ist. Auftritt Toni Erdmann, Winfrieds Alter ego: Mit falschen Zähnen, Perücke und schlecht sitzenden Anzügen versucht der erfolglose Musiklehrer seine Tochter aus der Reserve zu locken. Wie ein Stalker taucht der angebliche »Lebenscoach« Toni immer wieder unangekündigt in denkbar unpassenden Situationen auf.

 

Vorbild für die Rolle sei unter anderem ihr eigener Vater gewesen, sagt Ade im Gespräch. Für die Rolle der Ines habe sie dagegen viel recherchiert und mit Karrierefrauen gesprochen. »Unternehmensberater fand ich interessant, weil sie eine Rolle spielen müssen. Es geht viel darum, etwas zu verkaufen, etwas aufrechtzuerhalten«, sagt Ade. »Ines legt im Verlaufe des Films diese Rolle ein bisschen ab, während Winfried die Rolle des Toni Erdmann spielt.« Dass ihr Herz mehr für die Figur des Winfried schlage, will Ade nicht gelten lassen. »Ich arbeite viel daran, auch im Schnitt, dass man sich identifiziert, ohne dass es zu einfach wird. Man soll immer beide Seiten verstehen können.«

 

Einer der interessanten Aspekte von »Toni Erdmann« ist gerade, dass der Film danach fragt, wie Winfrieds Liberalität und Ines Berufserfolg zusammenhängen, gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille sind. »Die Werte, die der Vater ihr mitgegeben hat — Selbstbestimmtheit, Menschlichkeit, der Freiheitsgedanke — hat Ines ins Gegenteil verkehrt, die kann sie auch für den Job gut gebrauchen«, sagt Ade. Der Beruf Berater erfordere auch Offenheit und Neugierde. Man brauche Interesse am Gegenüber. »Dass Berater einfach in Firmen reingehen und dann wegkürzen ist ein Klischee.« Umgekehrt mache der Vater es sich zu einfach, mit seinem Grün und politisch korrekt sein.

 

Auch wenn Ade im Gespräch betont, dass sich die Geschichte aus den Figuren entwickelt habe, so erklärt sich der Erfolg von »Toni Erdmann« auch damit, dass der Film eine Konstellation aus der amerikanischen Komödie der vergangenen Jahre variiert: Loser trifft auf angepasste und angespannte Frau. Wobei Ade trotz aller ihrer teilweise surrealen Einfälle immer näher an der Realität ist als Hollywood. »Die Toni-Figur könnte man natürlich endlos überzeichnen«, erzählt Ade. »Ich habe noch Drehmaterial: Was Peter Simonischek da alles gespielt hat, das macht Spaß. Aber das ist Fantasy. Da glaubt man nicht mehr, dass der Vater das macht. Als Regisseurin muss man in so einer Situation sagen: Nein, weniger! Da muss man sich viel verbieten.«

 

Toni Erdmann. D/A 2016, R: Maren Ade, D: Sandra Hüller, Peter Simonischek, Michael Wittenborn, 162 Min., Start: 14.7.