Frohe Weihnachten, Schlampe!

Sean Bakers »Tangerine L.A.« ist knallbunt,

überdreht und altmodisch hoffnungsvoll

Auf einem fröhlich gelben Hintergrund läuft der Vorspann in eleganter Schrift. Dazu spielt ein beschwingter Walzer aus der hundert Jahre alten Weihnachtsoperette »Babes in Toyland«. Der Hintergrund entpuppt sich als Nahaufnahme einer Tischplatte. Zwei Paare dunkelhäutige Hände kommen ins Bild. Das eine packt einen knallbunt glasierten Donut aus und schiebt ihn dem anderen zu. Eine affektierte Frauenstimme sagt: »Frohe Weihnachten, Schlampe!«

 

Diese erste Einstellung enthält schon das Prinzip von »Tangerine L.A.«. Immer wieder lässt Sean Baker in seinem Film mit Humor Gegensätze aufeinanderprallen: Zärtlichkeit und Härte, Wunsch und Wirklichkeit, Spiel und Ernst, Vergangenheit und Gegenwart.

 

Die Handlung umfasst nur wenige Stunden. Auch am frühen Weihnachtsabend scheint in Los Angeles die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Sin-Dee Rella wurde gerade aus einer kurzen Haft entlassen und erfährt von ihrer besten Freundin Alexandra, dass ihr Boyfriend und Zuhälter Chester mit einer anderen geschlafen hat. Die Transsexuelle macht sich auf die Suche nach Chesters Affäre, einer weißen Frau »mit Vagina und allem«. Eine rasante Jagd zu Fuß durch die Blocks um den Santa Monica Boulevard und die Highland Avenue beginnt.

 

Dort fährt auch Taxifahrer Razmik umher — nicht nur auf der Suche nach Fahrgästen. Zu Hause wartet seine aserbeidschanische Sippschaft mit dem Weihnachts-Dinner auf ihn. Erst spät im Film wird sich seine Geschichte mit der von Sin-Dee und Alexandra kreuzen. Was zu einem explosiven Finale führt.

 

Wie schon in seinem vorherigen Film gibt Sean Baker einen ungewöhnlichen Einblick in das Leben von Sexarbeiterinnen unweit der Glamour-Industrie Hollywoods. Im Vergleich zum impressionistischen, elegischen »Starlet« und dessen ausgebleichten Bildern ist »Tangerine L.A.« bunt, schrill und voller Energie. Das liegt vor allem an den grandiosen Hauptdarstellerinnen Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor,
die selbst aus der Transsexuellen-Szene von Los Angeles stammen und am Drehbuch mitgearbeitet haben.

 

Der Realismus, besonders der Straßenszenen, wird dadurch verstärkt, dass »Tangerine L.A.« komplett mit unauffälligen Smartphones gedreht wurde. Neuartige anamorphe Objektive ermöglichen, den Telefonen kinotaugliche Cinemascope-Bilder zu entlocken. Die künstlich wirkende Übersättigung der Farben und die schroffen Kontraste passen perfekt zur Erzählhaltung dieses Films, der altmodisch hoffnungsvoll und leichtherzig ist, ohne das Leben der Protagonistinnen zu beschönigen.

 

Tangerine L.A. (Tangerine) USA 2015, R: Sean Baker, D: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian, 87 Min. Start: 7.7.