Situative Verrohung

»Censored Voices« macht unter Verschluss gehaltene Berichte aus dem Sechstagekrieg öffentlich

Als nach dem Sechstagekrieg 1967 ganz Israel im Taumel des Sieges über einen hoffnungslos unterlegenen Angreifer schwelgt, zweifeln junge Kibbuzniks, darunter der Schriftsteller Amos Oz und  Sachbuch-Autor Avraham Shapira, an der allgemeinen Stimmung. Sie treffen sich mit Soldaten, die gerade von der Front zurückgekehrt sind. In den ersten Wochen nach Kriegsende entstehen Interviews, die damals vom Militär konfisziert wurden. Jetzt bilden sie das akustische Herzstück eines außergewöhnlichen Dokumentarfilmes. Junge Israelis berichten darin vom Sturz aus dem Alltag in die Hölle des Krieges und der eigenen Abgründe. Das nationalistische Pathos, mit dem der junge Staat Israel seine Soldaten entlassen hat, trifft auf die Realität des Schlachtfeldes. Man tötet und massakriert, zunächst ägyptische Soldaten, dann auch Zivilisten, entmenschlicht schließlich den Gegner, demütigt Verdurstende unter der prallen Sonne — mit dem Argument, sie hätten dasselbe und mehr getan.

 

In diesen Berichten finden sich eine ganze Palette emotionaler Schattierungen von Reue, Zweifel, Scham und Rechtfertigung. Manch einer sieht in der eigenen Barbarei nicht nur die Folgen des Holocaust, sondern auch dessen Mechanismen: Ein Sprecher erkennt in dem Baby, das eine palästinensische Mutter bei der Vertreibung aus ihrem Dorf trägt, sich selbst und wie er zwei Jahrzehnte früher deportiert wurde. 

 

Die Erfüllung der Mission — die »Befreiung« Jerusalems, der Einmarsch bis zur Klagemauer erwecken bei einigen Übelkeit — öfter hört man die Frage der Kriegsheimkehrer, wie man ein Land überhaupt »befreien« kann. Angesichts der Heiligen Stätten von Jenin mit den Gräbern von Abrahams und Rahel sagt einer, dass Steine nie so wichtig sein können wie Menschen.

 

Die Interviews sind meisterlich montiert und bebildert mit Archivmaterial — junge Soldaten in der Gefechtspause, feiernde israelische Bürger, endlose Schlangen ausgebrannter Panzer, ängstlich niederkauernde Kriegsgefangene. Inmitten der Bilderfolge sieht man leitmotivisch wiederkehrend ruhige Einstellungen: ein Tisch, darauf
ein laufendes Tonbandgerät, und davor — wie gebannt den eigenen Stimmen zuhörend, alte Männer. Es sind die Soldaten von damals, die jetzt schweigen, aber mit Blicken, die Bände sprechen.

 

Ein halbes Jahrhundert waren diese »zensierten Stimmen« unter Verschluss, jetzt gibt es diesen Film. Die junge israelische Filmemacherin Mor Loushy dokumentiert nichts weniger als die situative Verrohung von Menschen, die im Dienste einer höheren Idee enthemmt sind. Ein universelles, zeitloses Thema.

 

Censored Voices (dto) ISR/D, R: Mor Loushy, 84 Min. Start: 7.7.