Stayin’ Alive

Das Festival "See the Sound" zeigt Dokumentarfilme über Musiker, die schlimmsten Widrigkeiten und Widerständen trotzen

Nach dem Tod seiner Frau beschließt der Düsseldorfer Musikproduzent Ralf Kemper, der sein Geld mit der Produktion von Werbe-Jingles und Fernsehmusiken verdient, etwas zu schaffen, was Substanz und Bestand hat. Er beschließt, in die USA zu fliegen und ein Album mit dem nahezu in Vergessenheit geratenen Jazzsänger Jimmy Scott aufzunehmen, der Ende der 40er Jahre mit Lionel Hampton arbeitete und später mit Charlie Parker. Der Name Scott tauchte auf den Plattenhüllen allerdings selten auf, so dass der Sänger nur wenigen Insidern ein Begriff wurde. In den 60er Jahren war es dann endlich Ray Charles, der einige Soloalben des großen Unbekannten produzierte, doch die Plattenfirmen stellten sich quer und wieder war Scott der Durchbruch nicht vergönnt. Der Sänger mit der durch einen ausgebliebenen Stimmbruch ungewöhnlich hohen Stimme beendete seine Karriere und arbeitete fortan unter anderem als Liftboy.

 

Es ist Kempers Ehrgeiz, Scott den Platz zuzuweisen, den er in der Jazzgeschichte verdient hat. Er will dafür auf eigene Kosten die besten Musiker engagieren und Gaststars wie Sting und Elton John gewinnen. Doch als er Scott in dessen Haus antrifft, scheint das Unterfangen bereits gescheitert, bevor es begonnen hat. Scott sitzt im Rollstuhl, ein kleiner, zusammengesunkener steinalter Mann, der am Vortag fast verblutet wäre. Trotzdem schafft es Kemper mit Unterstützung von Quincy Jones, Joe Pesci, David Sanborn und vielen weiteren Scott-Verehrern, den fast Vergessenen vors Mikrofon zu bekommen.

 

Von Widrigkeiten und Widerständen, von den Möglichkeiten des Scheiterns, handelt nicht nur »I go back home — Jimmy Scott« des Düsseldorfer Dokumentarfilmers Yoon-ha Chang, der im Wettbewerb der »See the Sound«-Filmreihe läuft. Auch »Raving Iran« der Schweizer Regisseurin Susanne Regina Meures zeigt, wie musikalische Visionen an der Realität zerschellen können. Sie begleitet die zwei iranischen DJs Anoosh und Arash durch das Nachtleben von Teheran, das sich von dem in europäischen Metropolen kaum unterscheidet: Es wird getanzt, bis die kaum bekleideten Körper vor Schweiß glänzen, schöne junge Menschen zelebrieren die Ekstase, bis sie erschöpft zu Boden gehen. Der einzige Unterschied: Dieses Nachtleben ist, wie so vieles im Iran, bei drakonischen Strafen verboten.

 

Die Polizei ist allgegenwärtig und die Zensurbehörden indizieren jedes den Glaubensgesetzen widersprechende Detail auf den zur Bewilligung vorgelegten CD-Covern der beiden DJs, die als Blade & Beard firmieren: Die Stimme einer Frau? Verboten! Westliche Symbole? Nicht erlaubt! Politische Aussagen? Todesstrafe! Dabei ist der strengen jungen Frau in der Zensurbehörde, die das CD-Cover in ihren Händen dreht und wendet, anzusehen, dass sie so viel lieber zur Musik tanzen würde, als sie zu verhindern — spätestens als sie laut loslachen muss und ihr männlicher Kollege eingreift, um die jede menschliche Regung unterdrückende Ordnung wiederherzustellen.

 

Beeindruckend und bedrückend, wie es dem immer wieder zwangsweise mit dem Handy gedrehten Film gelingt, anhand von gewaltsam unterdrückten Selbstverständlichkeiten ein ganzes System als repressiv und barbarisch bloßzustellen. Als Anoosh und Arash nach einem bürokratischen Marathon tatsächlich eine Einladung zu einem Rave in Zürich erhalten, stehen sie vor der Frage: Bleiben oder Zurückkehren? Wie auch immer ihre Entscheidung ausfällt, die Liebe zu elektronischer Tanzmusik sollte als Asylgrund anerkannt werden. 

 

Zum vierten Mal in Folge wird im Rahmen von »See the Sound«, dem Filmprogramm von »Soundtrack Cologne«, ein mit 2.500 Euro dotierter Preis für die beste Musikdokumentation vergeben. Neun Filme sind im diesjährigen Wettbewerb zu sehen. Aus dem Senegal wurde »The Revolution Will not Be Televised« eingereicht, Oscar-Preisträger Ethan Hawke ist mit seiner Regiearbeit »Seymour: An Introduction« vertreten, ein liebevolles Porträt des Pianisten Seymour Bernstein, aus Spanien kommt der Beitrag »Sex, Maracas & Chihuahuas«, ein wunderbares Biopic über den spanischen Orchesterchef Xavier Cugat, der unter anderem Caruso und Sinatra begleitete und es über Kuba bis auf den Walk of Fame in Hollywood schaffte.

 

Der erfahrene Musikfilmregisseur Julien Temple (»The Great Rock and Roll Swindle«) hat sich einer lebenden Legende angenommen, auch wenn dessen Todesurteil das Epizentrum von »The Ecstasy of Wilko Johnson« bildet. Auch hier geht es also wieder um das Thema, von den Umständen von der Musik abgehalten zu werden. Wilko Johnson wurde bekannt als sehr expressiv tanzender Gitarrist der Pubrock-Band Dr. Feelgood, doch Temple widmet sich Wilko Johnsons Tumor. Zur Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhielt der Musiker auch gleich die ihm verbleibenden Monate genannt: zehn. Johnson aber findet das Leben viel zu schön, um sich davon niederdrücken zu lassen, lieber diskutiert er mit dem Tod, den er in einen schwarzen Umhang gehüllt selbst mimt. Darin ist Johnson geübt, spielte er doch in einigen Folgen der Serie »Game of Thrones« einen sinisteren Henker. Temple montiert Spiel- und Dokumentarszenen zu einer aberwitzigen Collage mit der schönen Pointe, dass Johnson die Prognose der Ärzte und sein Filmporträt überlebt: In einer neunstündigen Operation konnte ihm der drei Kilo schwere Tumor entfernt werden. Während sein Film in Köln im Wettbewerb läuft, steht Wilko Johnson in seiner englischen Heimat bereits wieder auf der Bühne.