Insel der Verlorenen

Wirft Berlinale-Gewinner Seefeuer einen humanistischen Blick auf die Flüchtlingskrise oder schürt Regisseur Gianfranco Rosi unbeabsichtigt Ängste?

 

PRO

 


In seinem Dokumentarfilm über das Leben und Sterben auf Lampedusa lässt Regisseur Gianfranco Rosi irgendwann den lokalen Amtsarzt aus dem Berufsalltag berichten. Und es gibt keinen Zweifel, dass der Filmemacher die Schlussfolgerung teilt, die der Mediziner aus der langjährigen Arbeit mit Flüchtlingen zieht: »Jeder, der von sich behauptet, ein Mensch zu sein, hat die Pflicht, diesen Leuten zu helfen.«

 

Weil ein bedingungsloses Gebot zur Hilfe keiner individuellen Begründung bedarf, können die vielen aus dem Mittelmeer Gefischten in »Seefeuer« durchaus namenlos bleiben. Die Erzählperspektive wirkt dennoch nie unbeteiligt, da Rosi dem Publikum stumme Verzweiflung ebenso zumutet wie Leichen. Eine lange Szene, in der nigerianische Männer in einem improvisierten Klagelied ihre Odyssee rekapitulieren, gibt eine Ahnung vom erlebten Schrecken.

 

Trotzdem mag es irritieren, dass dieser Dokumentarfilm manchmal eine geradezu bürokra-tische Perspektive einzunehmen scheint. Beginnend mit dem Empfang von Seenotrufen in einer militärischen Funkzentrale, wird der behördliche Umgang mit der Massenflucht bis zur Registrierung der Neuankömmlinge im Aufnahmelager betont nüchtern protokolliert. Doch gerade diese Nüchternheit legt eine Einsicht nahe, der sich der deutsche Diskurs lange verweigerte: dass nämlich dem anonymen -Massensterben auf den Fluchtrouten nur durch effiziente staatliche Hilfsmaßnahmen zu begegnen ist — und sei deren Umsetzung auch noch so gefühlskalt.

 

Die dokumentierten Rettungsaktionen fanden im Rahmen der italienischen Operation »Mare Nostrum« statt, die deutsche Regierung partout nicht mitfinanzieren mochte. Wenn sich deutsche Zuschauer am distanzierten Ton dieses Films stoßen, liegt das vielleicht schlicht daran, dass Flüchtlingshilfe hierzulande auf starker Emotionalisierung aufbaut, da sie großteils privatisiert ist, eine Sache freiwilligen bürgerlichen Engagements.

 

Aus dieser Perspektive mag umso mehr befremden, dass Rosi einen ebenso kauzigen wie sympathischen zwölfjährigen Einheimischen ins Zentrum seines Films stellt, dessen Alltag auf Lampedusa vom Flüchtlingselend so unberührt scheint wie der einiger wortkarger Alter und des lokalen Radio-DJs, die ebenfalls episodisch auftreten. Indem er beide Handlungsebenen vordergründig nicht verknüpft, schärft der Regisseur allerdings die Sensibilität für subtile dramaturgische Assoziationen. Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass diverse Motivketten — die Seefahrt, Atemnot, Augenleiden, Sprachschwierigkeiten — die Einheimischen und die Fremden verbinden. So unaufdringlich und unsentimental, wie er ist, wirkt Rosis Humanismus umso eindrücklicher. 

 

 

 

KONTRA

 

Gianfranco Rosi hat ein Jahr auf Lampedusa verbracht. Die Insel ist zu einem Symbol geworden für die Herausforderungen, denen Europa durch die Fluchtbewegung von Menschen aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten ausgesetzt ist. Rettungsaktionen auf hoher See zeigt der Regisseur nur zu Anfang und am Ende seines Films. Dazwischen folgt er vor allem dem zwölfjährigen Samuele in seinem Alltag und kontrastiert dies mit Aufnahmen aus dem Erstaufnahmelager auf der Insel.

 

Am humanistischen Anliegen Rosis besteht kein Zweifel. Dennoch ist »Seefeuer« ein zwiespältiger Film, zunächst einmal dadurch, dass der Filmemacher vor allem Samuele in den Vordergrund stellt; es gibt keinen Flüchtenden, dem auch nur annähernd so viel Leinwandzeit gewidmet wird. Die Afrikaner und Syrer bleiben anonym, sie sind immer nur in größeren Gruppen zu sehen und fast immer im Halbdunkel. So bekommen sie etwas Bedrohliches.

 

Im Kontrast dazu steht Samuele. Mit selbstgebastelter Zwille zieht er allein oder mit seinem offenbar einzigen Freund über die Insel und gibt sich martialisch. Aber eigentlich ist er ein liebenswerter, ängstlicher Junge, der sofort seekrank wird, wenn er mit seinem Vater aufs Meer fährt und der wegen eines »faulen Auges« eine Augenklappe tragen muss. Seine Familie erfüllt übliche Italienklischees — inklusive Heiligenfiguren im Schlafzimmer und Spaghetti zum Mittagessen. Mit den Flüchtenden auf der Insel kommen Samuele und sein Umfeld offenbar nie in Kontakt.

 

Rosi hat seinen Fokus auf Samuele damit erklärt, dass die Aufnahmestelle für Flüchtende wegen Renovierungsarbeiten die meiste Zeit geschlossen war, als er auf der Insel drehte. Außerdem seien die Flüchtenden nur wenige Tage auf der Lampedusa, bevor sie auf das italienische Festland gebracht würden. Daher habe er nicht die Möglichkeit gehabt, wirklichen Kontakt aufzubauen und Samuele etwa einen afrikanischen Jungen gegenüberzustellen.

 

Dennoch hätte er die Flüchtenden anders zeigen können. Oftmals wirken sie im Dunkeln, eingehüllt in goldene Rettungsdecken, wie Aliens, die in Massen in einem entvölkerten »alten« Europa gelandet sind, das dem Untergang geweiht ist. Dieser Eindruck ergibt sich besonders, wenn man »Seefeuer« vergleicht mit Jakob Brossmanns Dokumentarfilm »Lampedusa im Winter«, der ein völlig anderes Bild der Insel zeichnet. Dort kann man sehen, wie Einheimische Flüchtende bei ihrem Protest gegen die Zustände im Aufnahmelager unterstützen, wie eine engagierte Bürgermeisterin der Insel sowohl für die Inselbewohner als auch die Fremden kämpft und wie Künstler vor Ort aus den gestrandeten Habseligkeiten von Flüchtenden aktivistische Kunst machen. Rosis Film läuft im Vergleich Gefahr, über die Schönheit und Poesie seiner Inselbilder einen melancholischen Blick auf die Krise zu befördern, der eher Ängste schürt, als sie zu nehmen.