Das Leben danach

In Alles was kommt erzählt Mia Hansen-Løve erfrischend undramatisch von einer Trennung

Mia Hansen-Løves letzter Film »Eden« verdankte seine leise Tragik der Weigerung des Protagonisten Paul, sich als DJ dem Zeitgeschmack anzupassen. Der neue Film der 35-jährigen Französin handelt dagegen von der Philosophielehrerin Nathalie, die freimütig zugibt, Stalinistin gewesen zu sein, als das unter Pariser Intellektuellen Mode war. Umgekehrt verspottet sie ihren Ehemann Heinz dafür, 1968 derselbe nüchterne Kantianer gewesen zu sein wie heute. Dann wagt der plötzlich mit einer Geliebten einen Neuanfang, und Nathalie sieht sich veranlasst, die Wechselfälle des Lebens zu reflektieren.

 

Während der DJ Paul dem Bruder der Filmemacherin nachempfunden war, dienten ihr die eigenen Eltern als Inspirationsquellen für Heinz und Nathalie. Die sind wie die realen Vorbilder Philosophielehrer, weshalb sie Dialoge berühmter Denker herbeizitieren und -Nathalie gelegentlich aus Texten von Pascal und Rousseau vorliest. Darin spiegelt sich ein entwaffnend ernster Umgang mit Themen wie Vergänglichkeit, Glück und Liebe, auf die in einzelnen Momenten auch Musikeinspielungen referieren.

 

Ein weiterer Aspekt des Films ergibt sich implizit daraus, dass die Hauptfigur ständig in Bewegung ist: auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause oder auf Reisen, um einen ehemaligen Schüler zu besuchen, mit dem sie eine intime Freundschaft verbindet. Dabei strahlt Isabelle Huppert eine so drahtige Dynamik aus, dass man sich wundert, ob ihre Nathalie jemals innere Ruhe finden mag. Die Frage, ob Seelenruhe erst im Jenseits möglich ist, wirft ein Prolog auf, der Jahre vorher spielt und Nathalie samt Familie am Grab eines berühmten Literaten zeigt. 

 

Abgesehen von diesem Anfang, dessen Unverbundenheit absichtlich irritiert, ist Hansen-Løves Drehbuch vordergründig so simpel konstruiert, dass auch ihr zauberhafter fünfter Spielfilm, für den sie den Berlinale-Regiepreis bekam, aus dem Leben gegriffen scheint. Da fällt jeder kurze Perspektivwechsel auf, auch jene Szene, in der Heinz von seiner Tochter unvermittelt aufgefordert wird, sich für seine Geliebte oder die nichtsahnende Ehefrau zu entscheiden. »Alles was kommt« wirkt so rührend, weil man nie weiß, welche Folgen diese herbeigezwungene Entscheidung haben wird: ob Nathalie wieder oder erstmals wirklich glücklich wird oder nicht. Die mehrdeutige Dramaturgie erlaubt jedenfalls den Gedanken, dass die Eheleute durchaus gemeinsam zufrieden waren — selbst wenn ihr bourgeoiser Selbstbetrug dem Idealismus ihrer Kinder und den eigenen philosophischen Positionen widersprach.

 

Alles was kommt (L’avenir) F 2016, R: Mia Hansen-Løve, D: Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kolinka, 100 Min. Start: 18.8.