Flucht in die Realität

Im dreiteiligen 1001 Nacht behandelt Miguel Gomes in freier Form die Krise in Portugal

Die Geste der ersten Sequenz von »1001 Nacht« ist radikal: Regisseur Miguel Gomes (»Tabu«) flieht von seinem eigenen Set, steigt in einen Bus und fährt davon. Der Mammutaufgabe, der Realität im krisengebeutelten Portugal filmisch auf den Grund zu drehen, fühlt er sich nicht gewachsen. Denn was wäre ein zeitgemäßer Krisenfilm? Was geht jenseits des empörten Aufzeigens von Not und Elend, jenseits der üblichen Betroffenheitsfiktionen und dem naiven Utopismus? Gomes weiß darauf keine einfache Antwort. Der Film aber geht auch ohne Regisseur weiter und entfaltet fortan einen wilden Reigen von Geschichten. Die werden von Scheherazade höchstpersönlich begleitet, haben mit dem Orient aber ansonsten wenig zu tun. Denn trotz der Fluchtgeste zu Beginn ist »1001 Nacht« keine eskapistische Spielerei, sondern stets in der portugiesischen Gegenwart verankert. 

 

Das fertige Werk besteht aus drei jeweils zweistündigen Teilen, die ihrerseits in unzählige Kapitel unterteilt sind und dabei unterschiedlichste Themen und ästhetische Ansätze verfolgen. Einige Beispiele: Im ersten Teil gibt es nicht nur eine Gruppe von EU-Bürokraten, die einer Dauererektion Herr zu werden versuchen, sondern auch einen sprechenden Hahn, der die Menschheit durchschaut hat. Im zweiten Abschnitt kommt es zu einer Gerichtsverhandlung in einem Amphitheater, bei der die selbstbewusste Richterin erkennen muss, dass die Fragen nach Wahrheit und Schuld gar nicht zu beantworten ist. Im abschließenden Teil wird ausgiebig eine Gemeinschaft von Vogelzüchtern in der portugiesischen Provinz porträtiert, die ihre Schützlinge für geheimnisvolle Gesangswettbewerbe trainieren.

 

Die Absage an die Autorenschaft, die sich in Gomes’ Flucht vom Set ausdrückt, spiegelt dabei durchaus die Produktionsbedingungen des Films wider. Ein Jahr lang hat der Regisseur mit einem Team von drei Journalisten Geschichten aus seinem Land zusammengetragen und fiktionalisiert. Die politische Bestandsaufnahme wird damit von der Logik der Repräsentation in eine freie Form überführt, die immer wieder das Dokumentarische mit dem Fantastischen vermischt, ihre Verankerung in gesellschaftlichen Verhältnissen aber niemals verliert. Von einem verklärten Begriff des Volkstümlichen ist Gomes dabei trotz der vielen Laiendarsteller und den Porträts »einfacher Leute« weit entfernt. Gemeinschaft stellt sich für ihn gerade nicht in einem homogenen nationalen Narrativ her, sondern höchstens in den unendlichen Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen.

 

 

1001 Nacht (As mil e uma noites) POR 2015, R: Miguel Gomes, D: Chico Chapas, Crista Alfaiate, Rogério Samora. 381 Min.

Start: 28.7. (Teil 1),

11.8. (Teil 2),

25.8. (Teil 3)