Notlagenprostitution

Der Kölner Verein »Looks« betreut in der Altstadt seit zehn Jahren Stricher.

»Für mich war das immer ein cooler Job. Ich sehe die Probleme eher jetzt, wo ich Schwierigkeiten habe, mich wieder ins normale Leben einzugliedern.« Stefan ist 29 Jahre alt, hat keine Ausbildung und Jahre lang als Stricher viel Geld verdient. Morgens hat er sich überlegt, was er sich kaufen möchte, mittags war er bei Saturn und hat es bar bezahlt. Zwischendurch ist er »gelaufen«. Jetzt erzählt er in der Kölner Altstadt dem Kamerateam von Carasana aus seinem Leben. »Ich habe das immer aus freier Entscheidung gemacht. Als schwuler Mann geht man damit vielleicht anders um. Ich habe Verständnis dafür, dass ältere Leute, die nicht so einfach an Sex kommen, Geld dafür zahlen.«

Anlaufstelle für männliche Prostituierte

Carasana dreht im Auftrag von Looks e.V. einen Film mit »den Jungs«, wie sie sich nennen. Es war schwierig, Jungs zu finden, die bei dem Film mitmachen wollten. Die wenigsten wollten vor die Kamera. Looks macht Streetwork und betreibt eine Anlaufstelle für junge männliche Prostituierte. In diesen Tagen feiert Looks das zehnjährige Bestehen. Dienstags bis donnerstags ist die Anlaufstelle in der Pipinstraße nachmittags geöffnet. Hier, nahe der Altstadt-Kneipen, in denen sie ihre Freier treffen, können die Jungs sich ausruhen, duschen, das Internet nutzen und sich einmal pro Woche anonym und kostenlos von einer Ärztin des Gesundheitsamts beraten lassen. Auch ihre Post, Behördenpost vor allem, können sie sich hierher schicken lassen. Etwa ein Drittel wohnt vorübergehend bei Freunden oder Freiern, ein Drittel hat eine gesicherte Wohnsituation, ein weiteres Drittel ist obdachlos. Gerade diese Jungs sind oft von »Frikadellenfreiern« abhängig, die Essen, ein paar Bier und ein Bett für eine Nacht anbieten und dafür Sex wollen.

Hilfe auch bei »Hetero-Themen«

Zweimal die Woche ziehen die SozialarbeiterInnen beruflich durch die Schwulenkneipen. Sie sind bekannt in der Szene, haben auch zu den Wirten einen guten Draht. Meist sind ein Mann und eine Frau zusammen unterwegs. Etwa die Hälfte der Jungs lebt heterosexuell, und gerade bei »Hetero-Themen«, Ärger mit der Freundin etwa, wenden sie sich lieber an Yasmine Chehata oder Annett Hoffmann als an die männlichen, schwulen Sozialarbeiter. 45 Prozent der Jungs sind Deutsche, 55 Prozent haben einen Migrationshintergrund.

»Wenn das rauskommt, werden wir daheim geächtet«

Seit etwa anderthalb Jahren kommen verstärkt Roma aus Bulgarien nach Köln. Sie reisen mit einem Touristenvisum ein und hoffen, eine normale Arbeit zu finden, was meist misslingt. Völlig mittellos erfahren sie dann von Landsleuten, dass man in der Altsstadt mit Sex mit Männern Geld verdienen kann. Zwei von ihnen geben anonym vor der Kamera Auskunft. Nachdem er das erste Mal mit einem Mann Sex gehabt hatte, erzählt einer, habe er gedacht: »Was für eine Schande, wenn das rauskommt, werden wir daheim in unserem Viertel geächtet.« Die beiden Familienväter schicken das Geld nach Hause. Die bulgarischsprachige Mitarbeiterin Ralitza Fardella stellt gerade bei dieser Gruppe riesige Wissensdefizite fest: Viele glauben, Geschlechtskrankheiten könnte man sich nur von Frauen holen, von Schwulen haben sie zu Hause noch nie gehört. Von Aids-Prävention haben sie erst bei Looks erfahren. Vor der Kamera drücken sie etliche Male ihren Dank dafür aus, dass sie hier freundlich und vorurteilsfrei aufgenommen werden.

»Es geht um Notlagenprostitution«

Etwa tausend junge Männer gehen in der Kölner Altstadt übers Jahr gesehen anschaffen, die Zahl der Stricher steigt. Die meisten nehmen Drogen, Speed vor allem und Gras, Alkohol natürlich. Alles was die Arbeit erleichtert, wach macht und hilft, »gut drauf zu sein«. Wenige, Sozialarbeiter Christoph Gille schätzt 15 Prozent, nehmen Heroin, meistens rauchen sie es. Junkies haben keine guten Chancen auf dem Markt. Es geht nicht um Beschaffungsprostitution, sondern um »Notlagenprostitution«, wie Gille sagt. »Keiner geht gern anschaffen. Viele waren in Heimen, haben Gewalt in der Familie erlebt.« Wenn Gille sie fragt, wie sie angefangen haben, hört er oft Geschichten, wie die von Matthias, der vor vier Jahren »zum Ackern« nach Köln kam: von zu Hause abgehauen, in einer deutschen Mittelstadt am Bahnhof rumgehangen, irgendwann angesprochen worden »von jemandem mit einem richtig guten Auto«.

In der Anlaufstelle von Looks geht es familiär zu. In der kleinen Küche wird mittags erst mal gekocht. Es gibt zwei Büros für Beratungsgespräche, ein Bad und ein kombiniertes Ess- und Wohnzimmer mit Hochbett und Computerarbeitsplatz. Heute kocht Lars, es gibt Spaghetti Bolognese, er geizt nicht mit Gewürzketchup: »Das kam, wenn ich im Heim gekocht habe, immer sehr gut an.« Der bodenständig wirkende junge Mann im Skater-Schlabber-Look hätte gern einen Job in der Gastronomie, bekommt aber keinen, weil er HIV-positiv ist. Früher suchte er sich Sexpartner über eine Internet-Kontaktbörse. »Na ja, früher war ich so«, sagt Lars und deutet einen enormen Körperumfang an. Er stellte fest, dass die Partner meist viel älter waren als er. So kam auf die Idee, dass er auch Geld für Sex nehmen könnte. Er schaltete eine Anzeige bei den professionellen Angeboten. Mittlerweile findet er seine Kunden sowohl in der Altstadt als auch im Netz. Bevor er mit ihnen ins Hotel fährt, sichert er sich ab: eine SMS an seine beste Freundin. Sie weiß dann, wo er sich aufhält.

HIV-Prävention als wichtige Aufgabe

Das könnte eine Idee von Looks-MitarbeiterInnen gewesen sein, die auch Tipps zur Professionalisierung geben. Gille empfiehlt, klare Absprachen mit den Freiern zu treffen: Wo sie was tun, und vor allem, was sie nicht tun. Die Themen, zu denen Looks berät, ergeben sich aus dem Alltag der Jungs. Looks informiert über Drogen, die von Freiern angeboten werden, und über Sexpraktiken, die Freier verlangen und den Strichern vielleicht unbekannt sind, und natürlich über Safer Sex. In der HIV-Prävention liegt der Ursprung von Looks. Vor zehn Jahren hatte man im Kölner Gesundheitsamt erkannt, dass Stricher mit den herkömmlichen Präventionsmaßnahmen kaum erreicht werden. »Engagierte Kölner Bürger« gründeten deshalb Looks, wie es in der Pressemitteilung zum Zehnjährigen heißt. Immer noch ist Aids-Prävention eine wichtige Aufgabe des Vereins, doch die SozialarbeiterInnen helfen auch bei Wohnungssuche, Ärger mit Behörden, familiären Schwierigkeiten, Drogenproblemen.

»Telefonnummern von Stammfreiern löschen«

Und Looks bietet Unterstützung beim Ausstieg aus der Prostitution. Das Problem beim Ausstieg ist, dass die meisten kaum Kontakte außerhalb der Szene haben, sie ist ihre Ersatzfamilie geworden. Im Aufenthaltsraum hängt ein Zettel, auf dem einer der Jungs die wichtigsten Tipps zum Ausstieg notiert hat: »Telefonnummern von Stammfreiern löschen«, »Handynummer wechseln«, »Respekt vor Geld entwickeln: Geld ist kein Klopapier«.

Das Filmteam ist zu Besuch. Da der Film als medienpädagogisches Projekt konzipiert ist, sind die Protagonisten in die Entstehung eingebunden. Sascha hat ein Interview gegeben, den Grobschnitt kann er sich heute anschauen. Die Sozialarbeiter Christoph Gille und Josch Henke sind dabei, Stefan ist da, Brahim sitzt am Computer. Nachdem Sascha dem Filmteam gezeigt hat, wie man an dem altersschwachen Fernseher den AV-Kanal einstellt, hört und sieht er sich zum ersten Mal auf einem Bildschirm: »Also morgens heißt es, einfach mal durchtelefonieren, wer heute ficken will.« – »Wenn ich ehrlich bin, möchte ich manchmal tot sein. Ich sitze manchmal in der Bahn und will schreien und weglaufen.« Sascha wird still. Brahim meldet sich aus dem Hintergrund: »Du führst ein Leben, das nicht jeder führt.«