Versprochen, gebrochen

Der Supermarkt steht in der Kritik. In der Krise hat sich seine Bedeutung noch gesteigert

Kleine Geschäfte können kaum noch bei Preisen und Auswahl mithalten — die Marktmacht der großen Supermarktketten ist zu groß. In der Corona-Krise sind sie nun zu quasi-staatlichen Stellen der Lebensmittelausgabe aufgewertet worden. Das Versprechen: Einmal rein und mit allem wieder raus, es ist praktisch. Für kleine Gemüse- oder Feinkostläden hingegen ist der »shutdown« zum »showdown« geworden.

Auf eine groteske Weise sind Supermärkte auch zu letzten Orten der Begegnung geworden — jetzt, wo Vereine, Büchereien, Kirchen und Kneipen dicht sind. Doch die übliche bummelnde Betriebsamkeit dort, Teil städtischer Kultur, ist einer feinnervigen Angespanntheit gewichen: Hält man Abstand? Steht jemand im Gang? Woher haben die anderen bloß den Mundschutz? Wann gibt es Klopapier? Statt säuselnder Sexy-Voice-Reklame (»Kennen Sie das auch? Also manchmal muss es einfach was Süßes sein...«), hören wir disziplinierende Appelle: Bitte Abstand halten! Mit Karte zahlen! Nur in haushaltsüblichen Mengen einkaufen!

Apropos: Wir erhalten auch einen ungekannten Eindruck der Verknappung einzelner Warengruppen, wie man es in Deutschland seit der Nachkriegszeit nicht mehr erlebt hat. Es ist eine gewisse Ironie, dass sich just in diesem Monat das Ende der Lebensmittelmarken zum 90. Mal jährt. Sie sind damals zum Sinnbild der Rationierung von Nahrung geworden: Ein jeder bekommt nur, was ihm vom Staat zugeteilt wird. Wenn nun die Regale lange leer bleiben, ist es, als breche das Supermarktsystem sein Versprechen der totalen Verfügbarkeit.

Zum 1. Mai 1950 wurde als letztes die Zuckerrationierung abgeschafft. Zucker steht auch in der heutigen Krise noch in den Regalen, zudem Süßwaren in unendlichen Variationen — aber kein Mehl. Ja, Mehl! Wer kauft das sonst schon? Die neue Lage veranschaulicht uns die Psychologie der Krise: Es ist, als stellten sich die Menschen auf ein postindustrielles Zeitalter ein. Aber wir erfahren gerade vor allem vieles über unsere Lebensmittelversorgung, die Süßigkeiten bereithält, aber uns kein Brot mehr backen lässt.

 


Bernd Wilberg ist Redakteur der Stadtrevue. Er hat neulich zum ersten Mal seit langem Brot aus der Plastikpackung gegessen. Es geht, aber man muss es sehr, sehr dick belegen.