Festival der Formen

Theater: Welttheater und Experimente – eine subjektive Programmvorschau

Acht Schauspieler sitzen an der Rampe, tragen billige rote Samtumhänge und eine Königskrone auf dem Kopf und erzählen Geschichten: »Once upon a time...«. Sie erfinden und spintisieren, bedienen sich aus »1001 Nacht« oder bei den Gebrüdern Grimm. Doch die Aufführung funktioniert nicht als Märchenabend. »And on the Thousandth Night« ist das jüngste live art event der Gruppe Forced Entertainment aus dem englischen Sheffield, eine Mischung aus Theatersport, Happening und Performance. Alsbald unterbricht der eine Geschichtenerzähler den anderen und beginnt selbst, bis er seinerseits unterbrochen wird, nach fünf Sekunden oder einer dreiviertel Stunde: Jede Aufführung läuft anders ab, ist auf beliebige Länge dehnbar und bringt den alltäglichen Kommunikationswahnsinn auf einen langen Punkt. Sechs Stunden soll die Theaternacht am 22.6 ab 24 Uhr im Kölner Schauspielhaus dauern, und wie zu Shakespeares Zeiten kann man während des Spektakels den Zuschauerraum jederzeit betreten und wieder verlassen. Im Garderobenfoyer wird David Lynchs »Mulholland Drive« laufen und Festivalleiter Matthias Lilienthal will für alle übernächtigten Theaterkonsumenten selber den Kaffee aufbrühen.

Erniedrigte und Beleidigte im Container

Dass großformatiges Welttheater auch in Deutschland entsteht, übersehen nicht nur Kulturpolitiker gerne. Insoweit ist die Einladung von Frank Castorfs Dostojewskij-Adaption »Erniedrigte und Beleidigte« (21.-22.6., Düsseldorfer Schauspielhaus) Überraschung und Signal zugleich. Er habe sich nie träumen lassen, so Lilienthal, ehemaliger Chefdramaturg des Meisters, ernsthaft eine Castorf-Produktion zu seinem Festival einzuladen, aber um diese Inszenierung sei er einfach nicht herum gekommen, es handele sich schlicht um Castorfs beste Arbeit der letzten zehn Jahre: Angesiedelt im neuen Berlin, in einer Art Big-Brother-Container, dessen Innenleben per Video übertragen wird, entwickele sich eine Art ironischer Hedwig-Courths-Mahler-Geschichte um aufrechte Liebe und eigensüchtigen Betrug.

Reichtum durch Petitessen

Neben den prominenten Blickfängen (wie Castorf, Luk Perceval, Krystian Lupa, Daniel Veronese und der Litauer Oskavas Kors<caron>unovas) machen gerade die Petitessen den Reichtum des Festivals aus. Besonders bemerkenswert erscheint dabei die formale Vielfalt der Produktionen. Viele Regisseure verzichten bewusst auf konventionelle Theaterumgebung, wagen sich mit ihren Experimenten hinein in die Großstadt, suchen die Konfrontation ihrer Kunst mit dem Alltag: »Torero Portero« von Stefan Kaegi (22.-25.06. Galerie Borgmann-Nathusius, Köln) ist im Auftrag des Goethe-Instituts im argentinischen Cordoba entstanden. Kaegi annoncierte in einem Anzeigenblättchen nach arbeitslosen Pförtnern über 40. Aus über 80 Bewerbungen wählte er drei aus. Seine Zuschauer setzt er nun in den Galerieraum, den Blick zur Straße gewandt, so dass sich eine Perspektive wie aus einer großen Pförtnerloge ergibt. Man sieht die drei argentinischen Pförtner mit leichten choreografischen Verrenkungen beschäftigt und hört sie über Microport ihr Leben erzählen.

Infantilität und Senilität

Lilienthals Lieblingsinszenierung des Festivals ist die Produktion »Übung« von Josse de Pauw (28.-30.06., Kammerspiele Bonn), der schon 1981 als Schauspieler an der ersten Kölner Ausgabe von Theater der Welt mitwirkte. De Pauw dreht für die Produktion eine kleine, triviale Schwarz-Weiß-Schmonzette im Stile der 70er, die er von fünf zehnjährigen Kindern live synchronisieren lässt: Damit erweise de Pauw der »Infantilität der Erwachsenen und der Senilität von Kindern eine merkwürdige Referenz«.

Private Räume

De Pauw streift mit seinem Spiel der Lebensalter einen thematischen Schwerpunkt des Festivals: »My biography is invented«. Dazu gehören zwei ungewöhnliche Produktionen. Die Kanadierin Sarah Chase hat ihr Projekt »Private Rooms« (21.-30.6., verschiedene Orte) erstmals im vergangenen Jahr im kleinen Kreis bei der Szene Salzburg gezeigt: Jeweils für ein paar Tage nistet sie sich in fremden Wohnungen ein und begibt sich dort auf eine Art Intimrecherche, versucht etwas über die Biografie der Inhaber herauszufinden, um sich aus diesen Bruchstücken dann ein neues Leben zusammen zu imaginieren. Das zeitigt für die Zuschauer einen dreifachen Effekt: Neben dem voyeuristischen Kick, eine fremde Wohnung zu betreten, erlebt man die Darstellung, die Vertanzung einer Biografie als Kunstwerk, und man sieht den Bewohner, der sich dieser künstlerischen Überformung seiner selbst gegenübersieht – was zu langen und spannenden Diskussionen über verschiedenartige Formen von Wahrnehmung führen dürfte. Für Theater der Welt wird sich Chase pro Stadt eine Wohnung vornehmen, und Lilienthal hofft, dass sich daraus in der Zusammenschau (30.6., FFT Kammerspiele, Düsseldorf) zugleich eine Art Kaleidoskop der unterschiedlichen sozialen Realitäten der vier Städte ergibt.

Potemkinsche Dörfer am Rhein

»Potemkinsche Dörfer« (22.-30.6., Köln: 24.-25.6, An der Bastei) des Schweizers Hans-Peter Litscher ist ein weiteres Projekt des Biografieschwerpunkts. Litschers Spezialität ist es, in Verbindung mit einem bestimmten Ort Lebensläufe seltsamer Leute zu erfinden, die er mit so vielen eigentümlichen Details auflädt oder mit tatsächlichen historischen Begebenheiten in Verbindung bringt, dass seine kuriosen Geschichten letztlich äußerst glaubhaft wirken. Für Theater der Welt hat Litscher eine merkwürdige Bootsfahrt auf dem Rhein entwickelt, in der Katharina der Großen und Konrad Adenauer entscheidende Rollen zukommen sollen. Dabei entwickelt er die Theorie, dass die Potemkinschen Dörfer in Wirklichkeit am Rheinufer standen...