Depressiver bad boy: Adam Driver

Atmen verboten

Um Covid kümmert man sich wenig in Cannes, dafür wie immer gerne um gequälte männliche Künstlerseelen

»So may we start?«, bevor es mit dieser gesungenen Zeile im Musical »Annette« losgeht, spricht Regisseur Leos Carax aus dem Off zu seinem Premierenpublikum in Cannes – es klingt natürlich nur so, als würde der Text live eingesprochen. Die Luft anhalten sollen wir bis zum Ende der »Show«, weist uns der Franzose an, der zuletzt 2012 mit »Holy Motors« das Festival aufgemischt hat.

Seitdem ist viel passiert. Atmen ist zum Politikum geworden. Sollen wir die Luft anhalten, weil »Annette« so spektakulär ist oder weil wir mit unserem Atem unsere Sitznachbarn infizieren könnten? Im Angesicht der – aus deutscher Perspektive – arg legeren Corona-Schutzmaßnahmen des Festivals wirkt Carax’ Intro tatsächlich eher wie einer jener ironisch-zynischen #allesdichtmachen-Clips, für die deutsche Schauspieler viel Kritik eingesteckt haben. Zumal Carax es nicht schafft, einen in den folgenden 140 Minuten so konstant in den Bann zu ziehen, dass man das Atmen vergessen würde. »Annette« ist vielmehr ein faszinierend unebener Film, mal schwingt er sich auf zu den höchsten Höhen der Kinokunst, mal wirkt er bleischwer, repetitiv und so depressiv wie seine Hauptfigur.

Erzählt wird die Liebesgeschichte des grenzgängerischen Comedians Henry McHenry (Adam Driver) und der gefeierten Operndiva Ann (Marion Cotillard). Nach der Geburt ihres Kindes Annette nimmt ihre Beziehung eine tragische Wendung und das Baby tritt in die Fußstapfen seiner Mutter – in welcher Weise soll hier nicht verraten werden.

Kein Motorradlärm auf der Hahnenstraße

»Annette« begann nicht als Projekt von Carax, sondern als Idee für ein Konzeptalbum der amerikanischen Brüder Russel und Ron Mael, besser bekannt unter ihrem Bandnamen Sparks, das sie live auf einer Tour präsentieren wollten. Als Carax Interesse zeigte, wurde aus dem ganzen ein Film.

In den Kölner Lokalmedien konnte man Ende 2019 über die Dreharbeiten lesen, als das hiesige Ordnungsamt dem Team einen nächtlichen Dreh auf der Hahnenstraße verbot – im Film steckt auch Geld der Film- und Medienstiftung NRW. Schade, vielleicht hätte man sonst ja Adam Driver auf seinem schwarzen Triumph-Motorrad durch Köln fahren sehen, das für Los Angeles hätte einstehen müssen. Immer wieder steigt er im Film auf seine Maschine und knattert durch die Nacht.

Alte Rollenbilder

Marion Cotillard bekommt dagegen im Film wenig zu tun, sie steht vor allem auf der Bühne, in einer Oper, in der sie als blutige Leiche endet, in einer der originellsten Gesangsnummern des Films gebärt sie Annette und ansonsten lässt sie sich anhimmeln (und oral befriedigen) von ihrem bad boy Henry. Die wesentlich komplexere Rolle hat Driver, der sich mit vollem Körpereinsatz und oft mindestens halbnackt der Herausforderung stellt. Gesanglich ist er ihr nicht gewachsen und man kann auch nicht behaupten, dass eine glaubhafte Chemie zwischen ihm und Cotillard entstünde – auch weil die Vorgeschichte ihrer Liebe nicht erzählt wird.

Es ist seltsam, dass ein Film, der so oft Konventionen sprengt, so einfalls­reich mit dem Genre Musical umgeht und so unvorhersehbar ist, im Geschlechterverhältnis auf so bekannte Muster baut: eine gequälte männliche Künstlerseele, ein Regelsprenger, sucht Erlösung bei einer fast wie eine Heilige verehrten Frau, Repräsentantin der Hochkultur. Eine Konstellation, die in Cannes umso mehr auffiel, weil sie in ähnlicher Weise auch im zweiten Wettbewerbsfilm, »Ha’berech« von Nadav Lapid, im Zentrum stand. Mal sehen, was in den nächsten Tagen Regisseurinnen wie Joanna Hogg, Andrea Arnold und Julia Ducournau dem entgegensetzen werden.