Anders arbeiten, anders denken, anders leben #1

Was vor ein paar Jahren noch wie ein Relikt aus den 70er Jahren erschien, ist wieder aktuell: arbeiten im Kollektiv — unter Bedin­gun­gen, die nicht von Chefs, Karriere und in Rendite gemes­senem Erfolg diktiert sind. Ohne Hierarchie, mit egalitären Löhnen, inklusiv und verbunden mit politi­schen Pro­jekten — das sind die Prinzipien dieser Bewegung. Auch in Köln werden diese Ideen wieder von mehr Menschen disku­tiert. Felix Klopotek traf sich mit Heinz Wein­hausen von der Sozia­lis­tischen Selbst­hilfe Mül­heim. Thomas Schäkel foto­grafierte das Locura-Kollektiv bei der Arbeit.

Kollektiv plus

Ein Rundgang über das Gelände der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim — und ein Überblick über die Kollektiv-Bewegung und ihre Diskussionen

Ein warmer, sehr warmer Tag im Spätsommer, es sind Herbstferien. Träge kriecht die alte, fette Sonne über den Horizont, man merkt den Herbst schon, es dämmert ab 18 Uhr. Ich betrete den Hof der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM), und schönes Wetter, die ruhige Stimmung in der Stadt und die Atmosphäre vor Ort verschmelzen ­sofort. Im Hof scheint alles zwei Gänge zurückgeschaltet, unaufgeregt, friedlich — auch alteingesessen. Denn in der ehemaligen Schnapsbrennerei, idyllisch gelegen zwischen Rhein und Clevischem Ring, residiert das Kollektiv seit 1979, die ersten 14 Jahre als Besetzer, danach mit Mietvertrag.

Heinz Weinhausen kommt aus einem der Häuser, ­begrüßt mich und nimmt mich mit auf einen Rund­gang. 25 Menschen gehören zum Kollektiv, gut 30 Leute wohnen derzeit auf dem Gelände, zu dem seit einigen Jahren auch die Halle am Rhein gehört. Wohnen? Wohnen und arbeiten. Heinz, 64 Jahre alt und seit 25 Jahren bei der SSM, betont: »Das gehört zusammen. Wer hier wohnt und kein Gast ist, der arbeitet auch hier. Bei uns ist alles ›Arbeit‹.« Auch unser Rund­gang? Und das Gespräch, das wir im ­Anschluss über die SSM und die neue Kollektiv­bewegung in Köln und in Deutsch­land führen werden? Heinz nickt, auch das wäre Arbeit — Arbeit, die im weiteren Sinne dem Kollektiv zugute komme. Er habe unser Treffen auf dem Kollektiv-Plenum anmelden können, dann sei es im ­Wochen­plan als Arbeit verzeichnet worden. Aber Heinz, der früher Kranken­pfleger war, hat Urlaub. Den Rund­gang mit mir macht er trotzdem gerne.

Die SSM lebt von Wohnungs­auf­lösungen und Umzugs­hilfe, unter­hält einen großen Gebraucht­waren­laden, sie vermieten die Halle am Rhein, ab und zu Gäste­wohnungen und im stolzen Produktions­gebäude der ehemaligen Schnaps­brennerei eine Etage für Tagungen oder ­Yoga-Kurse. Die SSMler haben sich selbst angestellt, bestreiten aus den Ein­nahmen den Unter­halt der Wohnungen und des Geländes, kaufen Nahrungs­mittel und Essen für alle ein und zahlen sich darüber hinaus ein Gehalt, etwa in Höhe des Bürger­geldes. Dass Arbeit, Wohnen, ­Leben, Gemeinsam­keit und Politik mit­ein­ander verwachsen, ist Programm: Der SSM möchte sich so gut und so weit es geht den Markt­mechanismen entziehen. »Wir wollen die Unterhalts­kosten so gering wie möglich ­halten«, sagt Heinz. »Wir machen hier auf dem Gelände vieles selbst, die Renovierungen, den Ausbau der Halle am Rhein... Wir wollen den Geld­bedarf so weit wie ­möglich reduzieren, um weitest­gehend unabh­ängig zu bleiben«. Sie kochen zusammen, unter­nehmen gemeinsam Aus­flüge, ­teilen sich die Arbeit unter­einander immer wieder neu auf.

Die Basis ist: Ich will mich selbst­bestimmt in ein Kollektiv einbringen, will Freiräume schaffen und nutzenHeinz Weinhausen

Noch vor wenigen Jahren hätten wir die SSM als eine Art soziales Urviech porträtiert: Schaut her, die gibt’s auch noch! Die Wurzeln der SSM sind noch älter, gehen auf die »68er-Jahre« zurück, in deren Folge sich in Köln eine Gruppe bildete, die mit geflüchteten Heim­kindern arbeitete und sie vor der in den Heimen noch üblichen schwarzen Päda­gogik schützte. Das war die Sozia­listische Selbst­hilfe Köln, die als SSK heute noch in Ehren­feld und am Salier­ring existiert. Die 70er Jahre — das war die Zeit der Kommunen, der Alter­nativ-Öko­nomie, der Haus­besetzungen, und Köln war eine Hoch­burg dieser Gras­wurzel­bewegung, mitten­drin die SSK und etwas später die SSM. Auch die Stadtrevue ist aus diesen Bewegungen entstanden. Lange her.

Aber es hat sich etwas getan. Plötz­lich sind Orte wie die SSM wieder mitten­drin. Überall in der Republik regen sich Kollektive, Gruppen von zumeist jungen Menschen, die gemein­sam arbeiten wollen — auf Augen­höhe, ohne Chef, ohne Unter­gebene, mit gleicher Bezahlung. Sie verbinden mit ihrer Arbeit ein Gegen­modell zur herrschenden Arbeits- und Wirt­schafts­form: Werden Gewinne erzielt, werden sie entweder unter den Kollektiv-Mitgliedern verteilt oder fließen in soziale Projekte. Mittler­weile ­finden jährlich bundes­weite Vernetzungs­treffen der ­Kollektiv-Betriebe statt, die Infra­struktur stellt eine Lübecker Kommune bereit. Trafen sich vergangenes Jahr 55 Vertreter*innen aus 30 Kollektiv­betrieben, so waren es dieses Jahr schon 80 Menschen aus 40 Betrieben. Die Website kollektivliste.org weist noch viel mehr Betriebe, Initiativen, Zusammen­schlüsse und Gruppen auf. Die ­Berufs­felder und Branchen sind so vielfältig wie die Lebens­modelle, die dahinter stehen: Verlage stehen auf der Liste — die Stadtrevue natürlich, aber auch die Wochen­zeitung Jungle World —, Clubs, Hand­werker*innen- und Bau-Kollektive, Cafés, Bäckereien, Caterer, Freie Bildungs­träger, IT-Betriebe, Fahrrad-Kuriere, Kinos, Sex­shops, Gärtner*innen, Druckereien, Kneipen, Zusammen­schlüsse von Care Workern, Trödel­händler. Manche Kollektive gibt es seit Jahr­zehnten (wie die Stadtrevue), andere sind strikt nicht-kommerziell ausgerichtet, viele fangen gerade erst an.

»Das habe ich in dieser Größe noch nicht erlebt«, sagt Heinz über das jüngste Treffen in Lübeck, immer noch ­etwas erstaunt. »Es war super vorbereitet, da hatten Leute schon einige Erfahrung mit Kollektiv­arbeit. Es ging nicht nur um Praktisches — Austausch über Schwierig­keiten bei der Betriebs­gründung, über Förder­möglich­keiten. Es ging auch um grund­sätzliche Fragen: Was wollen wir eigent­lich, wie stellen wir uns Kollektive vor?« Auch in Köln werden seit andert­halb Jahren in einem Arbeits- und Vernetzungs­kreis von Kollektiven diese ­Fragen diskutiert: SSM und Stadtrevue sind dabei, und Vertreter*innen aus mehr als 20 Kollek­tiven treffen sich alle drei Monate, um Grund­sätz­liches und Aktuelles zu diskutieren.

Was das Aktuelle ist, kann man sich leicht erschließen: So sucht das Party-Kollektiv krakelee Räume für ­einen nicht-kommer­ziellen, inklusiven Club, in dem queere und trans Menschen will­kommen sind. Es geht also um praktische Fragen. Was sind aber die grund­sätzlichen? »Einfach nur Kollektiv zu machen — das ist viel­leicht zu wenig. Das bleibt noch in der markt­wirt­schaft­lichen ­Logik hängen«, sagt Heinz. »Die grundsätzlich Frage lautet also: Worin unterscheidet sich das Arbeiten im Kollektiv vom marktf­örmigen Arbeiten?« Das ist tat­sächlich die ­Frage aller Fragen.

Leute aus den unter­schied­lichsten Kollektiven erzählen häufig die gleiche Geschichte: dass die Arbeit so viel Zeit in Anspruch nimmt, dass für politische Betätigung kaum noch Muße bleibt

Zunächst ist es so, dass heute immer mehr Menschen sich vorstellen können, anders zu arbeiten, nicht mehr an Karriere orientiert, ohne Hierarchien und mit Einheits­lohn, in Betrieben, die angeschlossen sind an soziale und ökologische Projekte, die erwirtschaftete Gewinne dem Markt entziehen und zum Beispiel für linke politische ­Arbeit zur Verfügung stellen. Aber schon in dieser Auflistung verbergen sich Fragen und Probleme, die es in sich haben. So erzählen Leute aus den unter­schied­lichsten Kollektiven häufig die gleiche Geschichte: dass die Arbeit im — und für das — Kollektiv so viel Zeit in Anspruch ­nehme, dass für politische Betätigung kaum noch Muße bleibe. Oder umgekehrt: Für viele bedeutet Arbeiten im Kollektiv wenig Geld zu verdienen, aber dafür mehr selbst­bestimmte freie Zeit zur Verfügung und niemanden im Nacken zu haben, der herum­brüllt und Anweisungen gibt. Dann wäre die Arbeit im Kollektiv vor allem selbst­genügsam und nicht explizit politisch.

»Das ist doch die Basis: Ich will mich selbst­bestimmt in ein Kollektiv einbringen, will Frei­räume schaffen und nutzen. Das Selbstgenügsame – oder besser: andere Arbeiten – ist durchaus schon eine Errungen­schaft«, betont Heinz. »Einen Chef zu haben, das ist mir un­erträg­lich, und ich will auch keinem Befehle geben.« Aber es reicht nicht, der Grat ist schmal, der die Selbst­genüg­sam­keit trennt von dem Rück­zug in die Nische, in die »Verinselung«, wie Heinz es nennt. Seine Vision ist deshalb: »Kollektive plus« Gemeint ist ein Commit­ment, über den eigenen Teller­rand zu schauen und sich zu fragen: »Wie können wir uns zusammen­tun, um die Markt­wirt­schaft zu ent­schärfen?« Wäre es möglich, betrieb­liche Über­schüsse unter­einander zu verteilen, einen über­betrieb­lichen Fonds für Not­fälle ein­zu­richten? Gegen­seitige Praktika zu ermög­lichen, um die Arbeits­teilung zwischen den Kollektiven aufzu­brechen? Gemein­sam eine große Immobilien zu erstreiten, die ein Haus zum Wohnen und Arbeiten für mög­lichst viele Kollektive wäre? Vernetzt gegen Obdach­losigkeit und Wohnungs­not aktiv zu werden? Die Kollektive in der Öffent­lich­keit so zu verankern, dass sie sichtbarer wären und ein gesell­schaft­liches Vor­bild für anderes Arbeiten dar­stellen könnten? Das wären die Fragen — und es ist klar, dass die Kollektiv-Bewegung in Köln und in Deutsch­land dies­bezüg­lich erst am Anfang steht.

Über Utopien wird in der Linken seit einigen Jahren verstärkt diskutiert, gerade aus dem Bedürfnis heraus, der Krise der Gegen­wart mit ihren öko­logischen, gesund­heit­lichen, politischen und öko­nomischen Kata­strophen etwas Positives gegen­über­zustellen. Im August 2020, mitten in der Corona-Pandemie, fand in Leipzig mit 2000 digital zuge­schalteten Teilnehmer*innen der Utopie-Kongress »Zukunft für alle« statt, der als gelungen galt und als Auf­takt für die neuerliche Diskussion über Utopien.

Die Kollektiv-Bewegung mit ihren praktischen Fragen und dem unmittelbar greif­baren Problem, wie sich Arbeit, ­Leben, auch politische Aktivität mit­einander verbinden lassen, hat das Zeug dazu, diese Utopie-Diskussionen zu erden. Sie mit den Mühen der Ebene zu kon­frontieren, ohne die Utopien aufzugeben. Denn der Anspruch, dass wer anders arbeitet auch anders denkt und lebt — und zwar befreiter vom Druck der Konkurrenz und der Ab­hängig­keit vom Geld —, dieser Anspruch bleibt.

Wir sitzen in Heinz’ kleiner Kaffee­küche und unterhalten uns noch ein bisschen über historische Utopien, seine Vergangen­heit in linken Kölner Gruppen und die Selbst­organisation in der SSM. Früher hätten sie schon im September das Heizen gestartet, jetzt ist Oktober und die Sonne brennt. »Es gibt keine Garantie, dass Kollektive Erfolg haben«, meint Heinz. »Egal, wie attraktiv die Bewegung im Moment erscheint. Aber es gibt eine Tradition.« Auf die kann man aufbauen, aus ihren Verirrungen ­lernen, aus ihren Erfolgen. Es geht immer weiter.