Wenig Anmeldungen, viel Platz: Die Kurt-Tucholsky-Hauptschule in Neubrück

»Erst die Kinder, dann Mathe und Deutsch«

Obwohl die Nachfrage nach Plätzen besonders groß ist, geht in diesem Sommer keine neue Gesamtschule an den Start. In Neubrück hat das schwarz-grüne ­Ratsbündnis nun Pläne gekippt, eine wenig besuchte Hauptschule umzuwandeln. Teil 3 unserer Serie zur Schulmisere in Köln

Dreihundert Anmeldungen für 162 Schulplätze — das sind die Zahlen der Katharina-Henoth-Gesamtschule aus dem vergangenen Jahr. »Jedes abgelehnte Kind zerreißt mir das Herz«, sagt Schulleiter Martin Süsterhenn, während er seine morgendliche Runde durch die Schule in Höhenberg-Vingst dreht, einem der ärmsten Stadtteile Kölns. Dort verteilt er »Schlemmertaler« für ein kostenloses ­Mittagessen: »Ich weiß ja, was wir aus unseren Kindern herausholen können.« An diesem Montagmorgen ist viel los auf den Schulfluren, derzeit laufen die Anmeldungen für die weiterführenden Schulen. Weil es zu wenig Gesamtschulen in Köln gibt, werden jedes Jahr bis zu tausend Kinder abgelehnt — und das seit mittlerweile einem Jahrzehnt. Ihnen bleibt nur die Möglichkeit, sich an ­anderen Schulformen anzumelden.

Viele der an der Höhenberger Gesamtschule abgelehnten Kinder kommen aus Neubrück, einem Stadtteil im ­Osten Kölns mit ähnlicher Sozialstruktur, an dem es bislang nur eine weiterführende Schule gibt: die wenig nachgefragte Kurt-Tucholsky-Hauptschule am Helene-Weber-Platz. Sie bietet Platz für drei Klassen mit insgesamt 72 ­Kindern pro Jahrgang. Dieses Schuljahr sind aber nur 41 Fünftklässler gestartet, darunter viele, für die die Hauptschule nicht die erste Wahl war. Die nächst gelegenen ­weiterführenden Schulen sind die Gesamtschule in Höhenberg oder das Schulzentrum Ostheim mit Realschule und Gymnasium. Schon jetzt gehen viele Neubrücker Kinder bei der Schulplatzlotterie leer aus, und es ziehen weitere Familien in die benachbarten Neubauviertel.

Deshalb brachten SPD und Linke schon im August 2021 in der Bezirksvertretung Kalk den Vorschlag ein, die Hauptschule in eine vierzügige Gesamtschule umzuwandeln. Im Frühjahr 2022 legte die Stadtverwaltung ein Konzept für die Umwandlung vor: Schon zum Schuljahr 2023/24 sollten 108 Plätze für Fünftklässler zur Verfügung stehen, die Hauptschule parallel auslaufen. Das großzügige Schulgelände bietet nach Angaben der Stadt Platz für einen Erweiterungsbau für die Oberstufe und eine neue Sporthalle. Perspektivisch sollten 900 Schülerinnen und Schüler dort unterrichtet werden.

Doch das Ratsbündnis aus Grünen, CDU und Volt lehnte den Vorschlag im Schulausschuss ab und sprach sich für den Erhalt der Hauptschule aus. »Sie haben es komplett versemmelt!«, findet Oliver Seeck, schulpolitischer Sprecher der SPD. Das Ratsbündnis hatte bei Neugründungen von Schulen zuletzt häufiger Gymnasien den Vorrang vor Gesamtschulen gegeben. Warum aber soll eine wenig besuchte Hauptschule erhalten bleiben, wenn es dort die Möglichkeit gibt, nicht nur mehr Plätze zu schaffen, ­sondern den Kindern auch gleichzeitig höhere Bildungschancen zu eröffnen? Und was treibt die Grünen an, die sich laut Wahlprogramm für den Ausbau von Gesamtschulplätzen einsetzen und das Schulsystem »mittel- bis langfristig zu einer Schule für alle« umbauen wollen?

Das Ratsbündnis verweist auf das Votum der ­Schulkonferenz zum Erhalt ihrer Schule. Das Profil der Hauptschule erweise sich als »Erfolgsmodell in Sachen ­Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit«, insbesondere im Bereich Sprachförderung und Inklusion, heißt es im Änderungsantrag des Bündnisses. Zudem müsse man Plätze für »Schulformwechsler« freihalten — also für Kinder, die das Gymnasium oder die Realschule nach der Erprobungsstufe in Klasse 5 und 6 wegen ­fehlender Eignung verlassen müssen.

Seit Jahren wünscht man sich in Neubrück eine Gesamtschule

»Die Kölner Politik nimmt Kindern, gerade aus sozial schwächer gestellten Stadtteilen, Chancen auf eine bessere Schulbildung und damit auf ein besseres Leben«, sagt Anne Ratzki, die lange die Gesamtschule in Holweide geleitet hat und bei der Bezirksregierung sowie in der Lehrerausbildung tätig war. Schulen sollten aus sich heraus nachgefragt werden und nicht für »Abschulungen« vorgehalten werden, sagt Ratzki. »Die Praxis des Abschulens, die hoch belastend für die Kinder ist, gehört abgeschafft und ist an der Gesamtschule ohnehin obsolet.«

Bereits in den 90er Jahren plädierten Bildungsex­perten für das Ende der Hauptschule und ein längeres gemeinsamen Lernen, zumindest bis Klasse 6 wie in ­Berlin. Im Gegensatz zur Hauptschule ermöglicht die Gesamtschule alle Bildungsabschlüsse bis zum Abitur. Befragungen durch die Gemeinnützige Gesellschaft ­Gesamtschule (GGG) zeigen, dass sich viele Kinder an ­Gesamtschulen durch die Förderung über ihre Grundschulempfehlung ­hinaus entwickeln: Im Jahr 2020 hatten 79 Prozent der befragten Abiturienten keine Gymnasialempfehlung. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund und aus benachteiligten Wohngebieten waren es sogar fast 90 Prozent.

»Die Familien in Neubrück sind verzweifelt. Ich habe mit vielen weinenden Müttern gesprochen«, berichtet Sylvia Schrage vom Bürgerverein Neubrück. Seit Jahren wünscht man sich im Stadtteil eine Gesamtschule. »Jetzt gab es endlich die Möglichkeit — und die Politik nimmt sie uns!« Schrages Tochter wurde schon vor mehr als zehn Jahres an allen Gesamtschulen in der Umgebung abgelehnt. Seitdem sind weitere Familien nach Neubrück und Umgebung gezogen, doch Schulen sind nicht hinzugekommen. »Das würde es in Nippes nicht geben. Aber wir sollen uns damit begnügen«, so Schrage.

Dass die Politik die Pläne der Verwaltung kippt und Gesamtschulen das Nachsehen haben, passiert nicht zum ersten Mal. Auch im Neubaugebiet in Rondorf hatte die Ratspolitik die Pläne des Schuldezernats ausgebremst und dem Gymnasium den Vorzug gegeben — obwohl die Bezirksvertretung Rodenkirchen und die umliegenden Schulen sich für eine Gesamtschule aussprachen. »Da wird nicht nach dem Wohl der Kinder geschaut, sondern aus politischen Gründen entschieden«, glaubt Ratzki. »Die Grünen lassen sich über den Tisch ziehen.«

»Wir sind nicht zu Gesamtschulgegnern mutiert, wie es im Zusammenhang mit unserer Entscheidung oft ­dargestellt wird«, sagt die schulpolitische Sprecherin der Grünen, Bärbel Hölzing, und verweist auch darauf, dass die Umwandlung in Neubrück nicht ganz vom Tisch sei. »Wir wollen die Entscheidung nicht übers Knie brechen und abwarten, inwiefern die Erzbischöfliche Gesamtschule, die 2025 in Kalk starten soll, Entspannung bringt.« Jetzt aber wolle man auf die »hervorragend ­arbeitende« Hauptschule nicht verzichten.

Auch Martin Süsterhenn, Schulleiter der Gesamtschule in Höhenberg, lobt die pädagogische Arbeit an der Kurt-Tucholsky-Hauptschule. Für ein »Abwarten« in Zeiten des Schulnotstands hat er jedoch kein Verständnis. »Wir könnten wahrscheinlich noch fünf weitere Gesamtschulen füllen. Jedes Angebot schafft neue Nachfrage.« ­Gerade in einem Stadtbezirk wie Kalk sei ein durchlässiges System bildungspolitisch notwendig: »Unsere Kinder ­brauchen Zeit. Wir machen erst mal Beziehungs- und ­Bindungsarbeit: Zuerst die Kinder, dann Mathe und Deutsch.«